Schattenbibliotheken: Plan B für die Open-Access-Transformation?

von Lambert Heller (TIB – Leibniz-Informationszentrum für Technik und Naturwissenschaften)

Eine Session auf dem diesjährigen Barcamp Open Science in Potsdam beschäftigte sich mit Schattenbibliotheken als Alternative, um das Ziel der Open-Access-Transformation zu erreichen.

Die Bibliotheks- und Informationswissenschaft, insbesondere in Deutschland, scheint in Bezug auf Schattenbibliotheken einem Konformitätsbias zu unterliegen. Aussagen von Hauptakteur:innen in diesem Bereich (zuletzt Annas Archiv ) finden kaum eine Entsprechung in der unabhängigen Forschung zu diesem Thema. (LIBREAS ist die rühmliche Ausnahme, wie die Referenzen weiter unten zeigen).

Und das obwohl die Herausforderungen kaum größer sein könnten, wenn man zum Beispiel bedenkt, dass

  • die deutschen Forschungseinrichtungen kollektiv große Teile ihres Beschaffungsbudgets (und damit ihrer Verhandlungsmacht) an das Oligopol der Wissenschaftsverlage abgeben und das bezeichnenderweise ihre “Transformations”-Strategie, den DEAL, nennen.
  • immer wieder von großen Verlagen und großen Technologieunternehmen pauschale Genehmigungen für die Verarbeitung und Weiterverbreitung großer Teile des menschlichen Wissens beansprucht werden, um ihre Large-Language-Modelle (LLMs) zu fördern, während Bibliotheken wie dem Internet Archive sogar die Möglichkeit verweigert wird, einzelnen Lesenden das Ausleihen von E-Books zu gestatten).

Obwohl inzwischen fast alle Regierungen offiziell dem Ziel der Open-Access-Transformation zustimmen, besteht die Möglichkeit, dass wir dieses Ziel kollektiv verfehlen. In der Barcamp-Session haben wir überlegt,

  • ob sich Schattenbibliotheken als der wahrscheinlichste Plan B für die Umgestaltung des Open Access erweisen könnten, und
  • wenn ja, was das in der Praxis bedeutet – insbesondere in Bezug auf die (offizielle, staatlich finanzierte) Bibliotheksarbeit in einem Land wie Deutschland.

In der Diskussion wurden die folgenden Themen behandelt:

Schattenbibliotheken als erfolgreiche digitale Bibliotheken

Schattenbibliotheken haben eine stetig wachsende Zahl von Downloads und Lesenden (Dorothea Strecker, “Nutzung der Schattenbibliothek Sci-Hub in Deutschland”. LIBREAS. Library Ideas, 36 (2019). Das Korpus wird Forschenden für neue Forschungsideen angeboten, zum Beispiel Textmining (Beispiel: Annas Archiv). Dies ist aus Sicht der Bibliotheks- und Informationswissenschaft wichtig. “Erstes Gesetz” der Bibliothekswissenschaft (S.R. Ranganathan): “Bücher sind zum Gebrauch da” (und nicht zum Wegschließen in der Bibliothek). Dies vorausgeschickt: Digitale Schattenbibliotheken sind digitale Bibliotheken, also haben sie auch ihre Unzulänglichkeiten, zum Beispiel dass sie kein “dritter Ort” sind. Die physischen und digitalen Aspekte von Bibliotheken sollten sich gegenseitig ergänzen; die Existenz digitaler Bibliotheken macht die physischen Bibliotheken nicht nutzlos.

Warum? Nutzungsfreundlichkeit

Schattenbibliotheken werden wegen ihrer Nutzungsfreundlichkeit genutzt. Wer eine DOI herausgefunden hat, geht oft direkt zu einer Schattenbibliothek, anstatt die legalen Wege einer Bibliothek zu nutzen. Die Nutzungsfreundlichkeit sollte ein Vorbild für Bibliotheken sein. Tools wie Unpaywall sind ebenfalls einfach zu benutzen und könnten von Bibliotheken stärker beworben werden. Versteckte digitale Archive (zum Beispiel zur Bewahrung des nationalen oder “vergriffenen” kulturellen Erbes) sind manchmal Teil des Auftrags von Bibliotheken, auch wenn dies im Hinblick auf die “Nutzungsfreundlichkeit” wenig hilfreich ist.

Schwachstellen der öffentlichen Infrastrukturen

Dies ist eine wichtige Erklärung für den wahrgenommenen Unterschied in der Nutzungsfreundlichkeit von Schattenbibliotheken. Institutionelle Repositorien müssen jedes Mal “neu erlernt” werden, wenn Forschende zu einer anderen Institution wechseln. Das wiederum macht Sci-Hub einfacher zu nutzen, weil es nicht an eine einzelne Institution gebunden ist.

Open Access ist mehr als nur Lesen. Open Access bedeutet mehr als die Freiheit, den Inhalt zu konsumieren. Er sollte auch wiederverwendbar sein. Schattenbibliotheken tragen zu diesem Ziel nichts bei.

Wissenschaftsorientiertes statt markenorientiertes Publizieren

Hier geht es um eine größere Perspektive auf die heutige Landschaft. Im Moment “brauchen” wir natürlich die Verlage für ihre traditionelle Rolle bei der Verbreitung von Literatur. Aber die Publikationskultur verändert sich, und Bibliotheken sollten sich mit ihr verändern und die neuen, einfacheren Publikationsmöglichkeiten nutzen. Mit diesen neuen Möglichkeiten kann der Zugang durch Bibliotheken verbessert werden (verschiedene Formate, digitale Verbreitung und vieles mehr), wenn sie neue Rollen im Publikationsprozess übernehmen. Schattenbibliotheken in ihrer jetzigen Form werden diese neue Aufgabe der Bibliotheken und die ergänzende, von Wissenschaftler:innen geleitete Art des offenen Publizierens nicht ersetzen. Wenn die Forschungsbewertung jedoch so bleibt, wie sie ist, werden die Forschenden an ihren alten Methoden des Publizierens bei großen Verlagen festhalten, bei denen der Ruf in Form des Journal Impact Factor (JIF) und dergleichen gemessen wird. Bibliotheken bieten bereits viele Möglichkeiten für das wissenschaftliche Publizieren (Repositorien, offene Zeitschriftensysteme, Universitätsverlage), die nicht in dem Maße genutzt werden, wie es möglich wäre.

Forschung über Schattenbibliotheken

Die Forschung über Schattenbibliotheken ist notwendig, um mehr zu erfahren und das Wissen über diesen Bereich zu normalisieren. Wir müssen Konformitätsvorurteile überwinden. Forschungsideen und laufende Bemühungen sind:

  • Wie können riesige Mengen an Literatur verbreitet werden? Eine infrastrukturelle Herausforderung, die sowohl Annas Archiv, Sci-Hub oder ähnliche Einrichtungen als auch traditionellere Bemühungen zur digitalen Bewahrung/Verbreitung betrifft. Wir brauchen Methoden, um große Textkorpora zu verbreiten, in letzter Zeit vor allem für das Training von LLMs.
  • Himmelstein et al. (2018) fanden heraus, dass Forschungsergebnisse häufiger verfügbar waren und zitiert wurden, wenn sie auf Sci-Hub oder im Open Access verfügbar waren, als auf geschlossenen Plattformen. (Himmelstein, D. S., Romero, A. R., Levernier, J. G., Munro, T. A., McLaughlin, S. R., Greshake Tzovaras, B., & Greene, C. S. (2018). Sci-Hub bietet Zugang zu fast der gesamten wissenschaftlichen Literatur, eLife, 7:e32822.)
  • DOIs sind ein Grund für den Erfolg von Sci-Hub, denn ohne sie wäre es sehr schwierig, bestimmte Inhalte in Sci-Hub zu finden. Schattenbibliotheken sind potenziell eine aussagekräftige Quelle für DOI-bezogene Informationen, wie zum Beispiel Nutzungsstatistiken. Diese könnten wiederum von traditionellen, legalen Systemen, die DOIs verwenden, wiederverwendet werden.
  • Sollten wir Sci-Hub in unseren Kursen zur Informationskompetenz erwähnen?

    Offensichtlich gibt es Lücken, die geschlossen werden müssen. Welche rechtlichen Folgen hat es, wenn bei der Nutzung einer Schattenbibliothek etwas schiefgeht? Sci-Hub befindet sich in Weißrussland, wo es soweit vor strafrechtlicher Verfolgung sicher ist. Die passive Nutzung von Sci-Hub wird wahrscheinlich nicht strafrechtlich verfolgt werden. Verleger:innen können rechtliche Beschwerden einreichen und Top-Level-Domains schließen. Viele Arbeiten verweisen sogar auf Sci-Hub und bekommen dennoch keine Probleme (siehe Eric W. Steinhauer, “Die Nutzung einer ‘Schattenbibliothek’ im Licht des Urheberrechts”. LIBREAS. Library Ideas, 30 (2016)).

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Über den Autor:
Als Sozialwissenschaftler und wissenschaftlicher Bibliothekar gründete Lambert Heller im Jahr 2013 das Open Science Lab (OSL) an der TIB – Leibniz-Informationszentrum für Technik und Naturwissenschaften. Mit NFDI4culture, Offene Forschungsinformationen und auftrags- oder zuschussfinanzierten Projekten unterstützt das OSL Communities in Wissenschaft und Kultur bei der Einführung offener digitaler Tools und Praktiken. Er ist auch auf LinkedIn und Mastodon zu finden.
Portrait: Lambert Heller©

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