Open-Access-Tagung: Reputation ohne Paywall?
Open Access als Heilmittel oder Homöopathie und die Vermessung der Wissenschaft auf dem Prüfstand waren einige der Themen der Tagung „Reputation ohne Paywall“. Rômulo Lima und Ralf Toepfer haben die Highlights aus den drei Themenblöcken „Wissenschaftskommunikation und Reputation“, „Open Access als Kriterium für Reputation“ sowie „Impact Factor und Metriken als Reputationskriterien“ zusammengefasst
von Rômulo Lima (Ibero-Amerikanisches Institut) und Ralf Toepfer (ZBW)
Am 8. und 9. Oktober 2024 fand an der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt die Tagung „Reputation ohne Paywall? Wissenschaftliches Publizieren im digitalen Wandel“ zum zehnjährigen Bestehen der AG Digitales Publizieren des Verbands „Digital Humanities im deutschsprachigen Raum“ (DHd) statt. Die Tagung brachte Expert:innen aus verschiedenen Bereichen zusammen, um Erkenntnisse über das wissenschaftliche Publizieren in Zeiten von Transformationsverträgen und der zunehmenden Bedeutung von Open Access zu diskutieren. Die Vorträge und Diskussionen umfassten ein breites Spektrum von Themen, wie die Folgen der Open-Access-Transformation und neuen Publikationsverhaltens für das wissenschaftliche Reputationssystem, Spezifika des Reputationsaufbaus in verschiedenen Fachdisziplinen und Diamond-OA-Alternativen zu etablierten kommerziellen Verlagen. Zu den Themen gehörten auch soziale Medien und Reputationsaufbau, neue Kriterien zur Evaluierung von Wissenschaftsqualität, post-reputationale Alternativen zur Wissenschaftspraxis sowie die Bedeutung von Reputation aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Tagung gliederte sich in die Themenblöcke „Wissenschaftskommunikation und Reputation“ (1), „Open Access als Kriterium für Reputation“ (2) sowie „Impact Factor und Metriken als Reputationskriterien“ (3). Eine Fish-Bowl Diskussion bildete den Abschluss der Konferenz.
Wissenschaftskommunikation und Reputation
Im Impulsvortrag von Gerd Lauer (Johannes-Gutenberg-Universität Mainz) wurde das Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlicher Reputation und Open Science in historischer Hinsicht beleuchtet. Was ursprünglich als Geheimnis und sogar kryptifiziert oder strikt inter pares verbreitet wurde, hat sich seit dem 17. Jahrhundert zu einem System der wissenschaftlichen Anerkennung entwickelt, das bis heute die Grundlage für die moderne wissenschaftliche Kommunikation bildet: Forschungsergebnisse werden veröffentlicht und die Autor:innen bauen dadurch – oft in Konkurrenz zueinander – ihre Reputation auf. Diese grundlegende Struktur des Reputationsaufbaus besteht bis heute fort und nimmt mit den jüngeren Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung neue Formen an. Das sogenannte „Maxwell-Garfield-System“, also die Kombination von Kommerzialisierung wissenschaftlicher Ergebnisse mit der Quantifizierung des Einflusses von Zeitschriften anhand von Zitationen, ist seit Ende des Zweiten Weltkriegs das vorherrschende Paradigma der wissenschaftlichen Kommunikation. Tendenzen wie Mega-Journals und „Predatory Journals“, aber auch Gegenbewegungen wie Sci-Hub und andere „Schatten-Bibliotheken“, stehen in direkter Verbindung mit diesem Paradigma, wobei Reputationsgewinne und -verluste abgemessen werden. Doch stellt sich die Frage: Steht das Konzept von Reputation nicht im Widerspruch zur wissenschaftlichen Qualität, wenn Letztere unabhängig von Namen und Bekanntheit ausschließlich mit objektiven Kriterien evaluiert werden sollte?
Georg Fischer (Open-Access-Büro Berlin, Freie Universität Berlin) reflektierte über die Funktionen, Organisation und Effekte der Reputation im Wissenschaftssystem. Der Fokus des Vortrages lag auf dem Wechselspiel der Reputationsvergabe durch verschiedene Akteur:innen und den impliziten Prinzipien, die diese oft gegenseitige Aufwertung strukturieren. Reputation entsteht, so Fischer, als ein historisch gewachsenes Empfehlungssystem, das unter anderem zur Regulation von Ressourcen (Aufmerksamkeit), zur Komplexitätsreduktion (Auswahlkriterien) und gleichzeitig als Anreizsystem für Wissenschaftler:innen dient. Die Wissenschaft als typischer Arbeitgebermarkt begünstigt es, Reputation als Indikator und Legitimation für Entscheidungen heranzuziehen. Reputation benötigt Medien (zum Beispiel Empfehlungsschreiben), Messbarkeit (Indizes, Rankings), und ihr Aufbau bringt Strategien wie Suchmaschinenoptimierung und Social-Media-Präsenz hervor, die sowohl erwünschte als auch unerwünschte Effekte haben können. Fischer nannte etwa den „Berghain-Effekt“: Je schwieriger es ist, in einen Club – oder ein Journal – zu gelangen, desto höher wird dessen Qualität bewertet, und entsprechend werden die Artikel und Autor:innen, die es geschafft haben, hoch eingeschätzt. Ein anderer Effekt ist der sogenannte „Hope Labour“, insbesondere bei Nachwuchswissenschaftler:innen, die oft unbezahlte Arbeit leisten in der Hoffnung, dadurch Anerkennung zu erlangen und langfristig eine bessere oder sicherere Position zu erreichen.
Open Access als Kriterium für Reputation
Unter dem Titel „Widersprüchliche Befunde in der Berufsbildungsforschung“ präsentierten Laura Getz und Dr. Bodo Rödel (beide vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB)) Ergebnisse aus verschiedenen Forschungsprojekten, die das Verhalten von Berufsbildungsforschenden in Bezug auf die OA-Transformation beleuchtet haben. Diese Projekte gehen von der Anerkennung von Widersprüchen im Zusammenhang von Open Access und Reputationsaufbau aus. Zum einen wird zum Beispiel der offene Zugang zu wissenschaftlichen Fachpublikationen begrüßt, zum anderen werden Open-Access-Publikationen von den Forschenden häufig als weniger reputationsstiftend wahrgenommen. In einer weiteren Widerspruchskonstellation wird die Nutzung sozialer Medien von Berufsbildungsforschenden teils als Zeichen von Offenheit und Wissenschaftsvermittlung begrüßt, teils aber auch zurückhaltend betrachtet. Das Thema Open Access in der Berufsbildungsforschung wurde in einem umfassenden Forschungsprojekt am BIBB untersucht, in dessen Rahmen Gruppendiskussionen und Onlinebefragungen durchgeführt wurden. Bei dem Promotionsvorhaben von Laura Getz wird zudem ethnografisch untersucht, inwieweit soziale Medien dem Aufbau wissenschaftlicher Reputation dienen können.
Der Vortrag von Kristin Biesenbender (ZBW) setzte sich mit veränderten Publikationsverhalten vor dem Hintergrund der Open-Access-Transformation auseinander. Das Aufkommen von wissenschaftsgeleiteten, digitalen Repositorien für Preprints erweitert die Bandbreite an Veröffentlichungsoptionen und stellt Alternativen zu traditionellen und OA-Verlagen dar. Biesenbender präsentierte dazu ausgewählte Forschungsergebnisse aus dem Projekt OASE sowie aus ihrem eigenen Dissertationsprojekt zum Publikationsverhalten von Forschenden der Volkswirtschaftslehre im Kontext der Digitalisierung. Sie hob die Unterschiede der Preprint-Veröffentlichungen in verschiedenen Disziplinen sowie die Funktionen und Erwartungen von Forschenden in Bezug auf Preprints und Peer-Reviewed-Artikel in verschiedenen Phasen eines Vorhabens oder der eigenen Karriere hervor. In der Diskussion wurde die Spezifizität der Geisteswissenschaften angesprochen, in denen Bücher eine ebenso große Rolle spielen wie Zeitschriftenaufsätze. Zudem wurde über mögliche Evaluationskriterien für Projektfinanzierungen gesprochen, die etwa Diamond-OA-Journals berücksichtigen könnten, was sich durch neue OA-Policies und Richtlinien etablieren ließe.
Ben Kaden (FH Potsdam) präsentierte einen unterhaltsamen Impulsvortrag über – seine eigene – Reputation und Personal Branding. Danach stellte Robert Wiese die Arbeit des Diamond-OA-Verlags Berlin Universities Publishing (BerlinUP) vor, wobei viele Strategien des Reputationsaufbaus für Diamond-Zeitschriften erläutert wurden, von Branding und Kommunikation bis zu Qualitätssicherung und Langzeitarchivierung. Christian Erlinger (ZHB Luzern) und Jens Bemme (SLUB Dresden) präsentierten einen Vortrag über die Bedeutung des Wikiversums (Wikiversity, WikiJournal, Wikidata, Scholia) für die Wissenskommunikation mit offenen Daten und Metadaten, was die Anerkennung innerhalb und außerhalb der wissenschaftlichen Communities erhöhen kann. Der erste Tag endete mit einem Abschluss-Panel, das stark durch den unmittelbar davor präsentierten Vortrag von Johann Pibert (Filmuniversität Babelsberg) beeinflusst war. Pibert behandelte das Reputationsproblem vor dem Hintergrund betriebswirtschaftlicher, psychologischer und kommunikationswissenschaftlicher Ansätze und stellte eine Prozesstheorie zur Forschungsattraktivität aus der Perspektive von Reputationsrezipient:innen vor, bei der affektive Aspekte eine wichtige Rolle spielen.
Themenblock: Impact Factor und Metriken als Reputationskriterien
Der dritte Themenblock widmete sich unter dem Titel „Impact Factor und Metriken als Reputationskriterien“ der „Vermessung der Wissenschaft“. In ihrem Impulsvortrag „Messen, zählen, wiegen – Vom Journal Impact Factor zu den Responsible Metrics in den Naturwissenschaften“ führte Birgid Schlindwein (TU München) kurz in die Welt der Bibliometrie ein, indem sie wichtige bibliometrische Indikatoren vorstellte und vor allem die jeweiligen Schwächen dieser Indikatoren für die Bewertung von Forschungsleistungen hervorhob. Sie plädierte für eine informierte Anwendung von Metriken, das heißt einen verantwortungsvollen Umgang mit ihnen. Birgid Schlindwein schloss ihren Vortrag mit den Worten, dass Bibliometrie dafür da sei zu erkennen, wo man Fragen stellen muss. Ulrike Wuttke (FH Potsdam) stieß in ihrem Vortrag „Die Vermessung der Wissenschaft auf dem Prüfstand“ in dasselbe Horn, indem sie Grenzen und Potenziale bibliometrischer Verfahren vorstellte und kritisch hinterfragte. Der bewusst an Daniel Kehlmanns Roman „Die Vermessung der Welt“ angelehnte Titel des Vortrags, weist bereits auf die „Vermessenheit“ der rein quantitativen Beurteilung von Forschungsleistungen hin. Die anhaltende Dominanz quantitativer Metriken zur Leistungsmessung in der Wissenschaft stehe einem wissenschaftsgeleiteten, auf Open-Science-Kriterien basierenden Publikationssystem entgegen. Initiativen, wie DORA oder CoARA, wollen das ändern, indem sie sich für eine verantwortungsvolle Nutzung von Metriken einsetzen und auf eine Hinwendung von quantitativen zu qualitativen Metriken plädieren. Aber auch bei der Entwicklung neuer Kriterien müsse immer abgewogen werden, ob und inwieweit damit neue Hürden oder Biases erzeugt würden.
Caroline Jansky (HAB Wolfenbüttel) stellte in ihrem Vortrag „Reputation und Review. Eine Praxisevaluation“ zunächst vor, wie die Umsetzung des Open (Public) Peer Review bei der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften (ZfdG) konkret umgesetzt wird und präsentierte anschließend die Ergebnisse einer Umfrage unter den bisher für die ZfdG tätigen Reviewer:innen. Aus Zeitschriftenperspektive ergab die Umfrage unter anderem, dass Innovation ein Reputationsfaktor ist und Publizieren als soziotechnischer Prozess zu verstehen sei, der die technische Infrastruktur und personelle Kommunikation verbinde.
Vor der Abschlussdiskussion präsentierte c:hum (collective humanities) eine provokative post-reputationale Perspektive auf die Wissenschaftspraxis, die weit über die etablierten Ansätze der OA-Transformation hinausblickt, deren Fokus – so die Kritik – immer noch auf klassischen Publikationen und traditionellen Wegen liegt. So sei es durchaus eine offene Frage, ob Open Access „Heilmittel oder Homöophatie“ sei. Der Vortrag zielte darauf ab, Anregungen und Denkanstöße zu geben, was durch die anarchistische Perspektive gut gelang, da er sich konsequent der gängigen „neoklassischen“ Systemlogik entzog („…daß der Anarchismus vielleicht nicht gerade die anziehendste politische Philosophie ist, aber gewiß eine ausgezeichnete Arznei für die Wissenschaften und die Philosophie“ hielt bereits Paul Feyerabend in seinem Essay „Wider den Methodenzwang“ fest (Feyerabend 1976:13)). Die anarchistische beziehungsweise syndikalistische Herangehensweise der Vortragenden setzte sich mit den Hauptproblemen des Personenkults im Wissenschaftssystem auseinander und schlug Alternativen wie die Anonymisierung von Texten und das Bilden von Kollektiven vor, die Ideen und Texte statt Personennamen in den Vordergrund stellen. Auch unkonventionelle Formate und Plattformen wie Podcasts oder Video-Essays wurden als mögliche Wege zur Wissensverbreitung thematisiert.
Somit griff die Diskussion am Ende der Tagung das zu Beginn adressierte Thema des Spannungsfelds zwischen (personalisierter) Reputation und (objektiver) Wissenschaftsqualität wieder auf und leitete eine spannende Debatte über die Reformierung oder Abschaffung des Reputationssystems ein.
Die kollaborativ erstellten Notizen der Tagung lassen sich im folgenden Pad finden: Akademische Reputationsspiele, Dr. Georg Fischer. Alle Vortragenden wurden eingeladen, zum geplanten Open-Access-Tagungsband beizutragen, der im dritten Quartal 2025 bei Melusina Press Humanities erscheinen soll. Die Vielfalt des Themenfeldes und die ständigen Entwicklungen im Bereich Open Access machen eine Fortsetzung der Diskussionen in der Tat unerlässlich. Es bleibt spannend!
Dr. Rômulo Lima ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler und seit Oktober 2023 Bibliotheksreferendar am Ibero-Amerikanischen Institut (IAI) in Berlin. Im Rahmen seines Referendariats hat er ein Praktikum in der Abteilung Publikationsdienste der ZBW absolviert. In seiner Abschlussarbeit für das Referendariat wird er sich mit Finanzierungsmodellen von Diamond-Open-Access-Zeitschriften beschäftigen.
Porträt: Dr. Rômulo Lima©
Ralf Toepfer arbeitet in der Abteilung Publikationsdienste der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft, in der er u.a. disziplinspezifische Services für das Management wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsdaten betreut, Publikationsanalysen im Kontext der Open –Access-Transformation erstellt und beim Aufbau der Open Library Economics (OLEcon) unterstützt. Er ist auch auf Mastodon zu finden.
Porträt: ZBW©, Fotograf: Sven Wied
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