Innovationen in Bibliotheken: Eindrücke einer Studienreise in die Niederlande
ZBW-Mitarbeiterin Alena Behrens hatte kürzlich die Gelegenheit, auf einer viertägigen Studienreise neun ganz unterschiedliche Bibliotheken in den Niederlanden kennenzulernen. Was sie beim Blick über den Tellerrand gesehen hat und welche Orte oder Gegebenheiten bei ihr besonderen Eindruck hinterlassen haben, beschreibt sie in diesem Erfahrungsbericht.
Gastbeitrag von Alena Behrens
Vom 25. bis 28. Oktober 2022 hatte ich die Möglichkeit, das niederländische Bibliothekssystem im Rahmen einer Studienreise von Bibliothek & Information International kennenzulernen. Gemeinsam mit 19 weiteren Mitarbeitenden aus Bibliotheken in ganz Deutschland erkundete ich neun Städte und ihre Bibliotheken. Die Stationen unserer Reise waren
- die Bibliothek Rozet in Arnheim,
- die DePetrus-Kirche in Vught,
- die LocHal in Tilburg,
- die Chocolade Fabriek in Gouda,
- die Bibliothek der Universität Rotterdam,
- das DOK in Delft,
- die OBA in Amsterdam,
- die Bibliothek De Korenbeurs in Schiedam und
- die Bibliothek Neude in Utrecht.
Dieser Bericht fasst einige der vielen Besonderheiten und Erlebnisse der Reise zusammen.
„You have to change to stay the same.”
Dieses Zitat des Malers Willem De Kooning hat sich das Ministerie van Verbeelding, das Ministerium für Vorstellungskraft, zum Motto gemacht. Dabei handelt es sich nicht um ein offizielles Ministerium, sondern um ein Kollektiv aus Architekt:innen, Designer:innen und Bibliothekar:innen. Sie sind die Köpfe hinter vielen der beeindruckenden neuen Bibliothekskonzepte und -gebäude, von denen wir einige auf dieser Reise besichtigen konnten. Rob Bruijnzeels gehört zu diesem Kollektiv. Er hat uns ein Stück begleitet, um uns einen Einblick in die Arbeit und die Struktur der niederländischen Bibliothekswelt zu geben.
Um weiter relevant und interessant zu bleiben, müssen sich Bibliotheken an Veränderungen in der Gesellschaft anpassen. In den Niederlanden ist es z. B. selbstverständlich, dass sie Sprechstunden zur Beratung rund ums E-Government anbieten. Auch das Selbstbild als Dritter Ort ist dort bereits allgegenwärtig. Öffentliche Bibliotheken werden als Wohnzimmer der Städte wahrgenommen und entsprechend genutzt.
Möglich wird dies auch durch eine andere Organisationsform und eine effiziente Gestaltung von Arbeitsabläufen, wie uns Rob Bruijnzeels weiter erklärt. In den Niederlanden sind öffentliche Bibliotheken Privatinitiativen und Stiftungen. Sie erhalten zwar auch Geld von der Kommune, sind davon aber nicht so stark abhängig wie in Deutschland. Dies ermöglicht mehr Freiräume. Zudem schließen sich Bibliotheken mehrerer Kommunen oft in einer großen Bibliotheksorganisation zusammen, die die Organisation und zentrale Aufgaben (Medieneinkauf und -bearbeitung, Management, Personalorganisation) verwaltet.
Die Niederländer:innen haben eine lange Tradition als Kaufleute. Diese Mentalität spiegelt sich auch heute im Land wider. Wenn etwas effizienter und besser organisiert werden kann, wird es so umgesetzt. Abteilungen für Katalogisierung und Buchbearbeitung gibt es in den einzelnen Bibliotheken nicht mehr. Diese Aufgaben werden von einem Dienstleister übernommen. Weil sich viele Bibliotheken daran beteiligen, ist dies günstiger, als überall einzelne Abteilungen dazu zu betreiben. Das Personal kann damit effizienter in der Programmarbeit eingesetzt werden.
Bibliothek: nicht FÜR alle, sondern VON allen
Dieses Prinzip stellte uns Jan van Bergen en Henegouwen aus Bibliothek De Korenbeurs in Schiedam vor. Aber auch in anderen öffentlichen Bibliotheken in den Niederlanden ist es zu finden. Gemeint ist damit, dass sich die Besucher:innen der Bibliothek an deren Entwicklung beteiligen.
Dies ist zum einen durch zahlreiche Freiwillige möglich. Die Bibliothek in Schiedam arbeitet mit etwa 300 von ihnen zusammen. Eine Anzahl, die alle Teilnehmer:innen der Studienreise sehr überrascht hat. Für Deutschland und unsere Einrichtungen konnte sich das niemand vorstellen. Die ehrenamtliche Arbeit hat in den Niederlanden jedoch eine lange Tradition und ist wichtiger Teil der Gesellschaft. Für viele ist es selbstverständlich, sich in ihrer Freizeit zu engagieren. Dadurch ist es beispielsweise möglich, dass Bibliotheken mit wenigen Angestellten und kurzen Öffnungszeiten viele Veranstaltungen anbieten. Auch unsere Führungen auf der Reise wurden oftmals von Ehrenamtlichen übernommen, nur selten sprachen wir mit festangestellten Bibliotheksmitarbeitenden.
In dem Zusammenhang fiel oft die Beschreibung der „Community Library“, einer Gemeinschaftsbibliothek. Jede:r kann sich ehrenamtlich einbringen. Veranstaltungen werden oft erst auf Nachfrage der Besucher:innen organisiert. So wissen die Bibliotheksmitarbeitenden, dass wirklich Bedarf zu einem Thema besteht und woran ihre Zielgruppen interessiert ist.
Ergänzt wird dieses System durch breit ausgebaute Self-Service-Angebote. Besucher:innen nehmen die Ausleihe und Rückgabe von Medien selbstständig über entsprechende Stationen vor. „Jeder wird zum Bibliothekar“, erklärt Rob Bruijnzeels. Klassische Ausleih- oder Servicetheken finden sich in niederländischen Bibliotheken daher kaum noch, stattdessen verteilte Info-Points. Durch die offene Gestaltung ist die Hemmschwelle, um Rat zu fragen, geringer. Die Angebote sollen so niedrigschwellig wie möglich gestaltet werden, um ein offener Treffpunkt für alle Bewohner:innen des Ortes zu sein. Den Besucher:innen wird viel Eigenverantwortung übertragen, wodurch ein vertrauensvoller Umgang in der Bibliothek und mit deren Angeboten entsteht.
Beeindruckende und ungewöhnliche Architektur
Nicht unerwähnt bleiben soll die außergewöhnliche und innovative Architektur einiger der besuchten Einrichtungen. Die Bibliotheken der Städte Vught und Schiedam stechen besonders heraus. Beim Betreten der Gebäude hatte ich nicht das Gefühl, in eine Bibliothek zu kommen.
In Vught wurde die Bibliothek in eine alte Kirche gebaut. Dadurch entsteht ein besonderes Raumgefühl. Mit Arbeitsplätzen in Beichtstuhl-Optik werden die beiden Orte fließend miteinander verbunden. Zudem geht die Bibliothek schwellenlos in ein Museum und einen Dritte-Welt-Laden über. Das Zusammenbringen verschiedener Angebote ist hier sehr gelungen.
In Schiedam hatte ich den Eindruck, ein Gewächshaus zu betreten. Der überdachte Innenhof ist mit vielen Pflanzen zu einem gemütlichen Garten gestaltet worden, in dem sich die Besucher:innen gerne aufhalten. Das Zitat vom römischen Redner Cicero „Hast du einen Garten und eine Bibliothek, dann hast du alles, was du brauchst“ wurde hier komplett umgesetzt.
Doch auch in Gouda und Tilburg finden sich beeindruckende Bibliotheken, die auf selbstverständliche Art die Geschichte der Gebäude miteinbeziehen. In Gouda befand sich in dem heutigen Bibliotheksgebäude zunächst eine Schokoladenfabrik. Das Haus wurde durch das Einziehen von Zwischendecken und Wänden zu einer Bibliothek umgestaltet. Auf dem Boden finden sich Zeichnungen, welche Maschine zur Schokoladenherstellung dort früher stand. So lernt man nebenbei auch noch etwas über die Vorgänge der alten Fabrik.
Die LocHal Tilburg war hingegen früher eine Werkstatt für Lokomotiven, wie der Name bereits andeutet. An der beeindruckenden Größe der Halle ist dies noch erkennbar. Aber auch der Kran zum Anheben der Lokomotiven unter der Hallendecke sowie eine Geschichtsecke zeugen davon. Hier sind alte Bilder der Werkstatt ausgestellt und ehemalige Mitarbeiter:innen berichten von ihrer Arbeit.
In all der Innovationskraft, die in den Bibliotheken steckt, finden sich so auch immer Rückbezüge zur Geschichte der Gebäude. Diese Verbindung trägt mit zum Charme der Bibliotheken bei und ermöglicht nebenbei einen Einblick in die Historie der Stadt.
Fazit zur Studienreise in die Niederlande
Diese Reise hat all meine Erwartungen übertroffen und wieder mal gezeigt, dass sich ein Blick über den Tellerrand immer lohnt. Zu Recht gelten die Bibliotheken in den Niederlanden bei uns als innovativ und zukunftsweisend. Ich kann nur empfehlen, an Austauschprogrammen und Studienreisen teilzunehmen, wenn sich die Gelegenheit bietet.
Es profitieren alle davon, wenn man in den Austausch geht, voneinander lernt und sich inspirieren lässt.
Hintergrund zur Studienreise in die Niederlande
Die Studienreise hat BI-International (BII) organisiert. BII ist eine ständige Kommission der Vereinigung Bibliothek & Information Deutschland, die den internationalen Fachaustausch im Bibliothekswesen fördert. Gemeinsam mit dem Goethe Institut förderte BII die Reise auch finanziell. Die Reiseleitung übernahm Marc de Lange von der ekz Benelux. Für die teilweise Einladung möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken. Meine persönliche Meinung wird dadurch nicht beeinflusst.
Weiterführende Links
- Studienreise Niederlande, 25.10. – 28.10.2022 | Tag 1 & 2
- Studienreise Niederlande, 25.10. – 28.10.2022 | Tag 3
- Studienreise Niederlande, 25.10. – 28.10.2022 | Tag 4
- Informationen zu BI-International und deren Austauschprogrammen und Studienreisen
- Ein leistungsstarkes Netzwerk – Einführung in das Bibliothekswesen der Niederlande (PDF)
- Der ideale Lernort für Studierende: Ergebnisse einer ZBW-Foto-Umfrage
- Bibliothek als „öffentliches Wohnzimmer“: Eindrücke von Bibliotheksreisen in Skandinavien, den Niederlanden und Kolumbien – ein Interview
- Bibliothek als Ort nach Corona: Hybrid und partizipativ?
- Inspirierende Bibliotheken: Dokk1 in Aarhus, Dänemark, sowie Utrecht University Library, Niederlande
- User Experience in Bibliotheken: Einblicke aus der Bibliothek der Universität Amsterdam
Alena Behrens arbeitet als Bibliothekarin in der Abteilung Benutzungsdienste in der ZBW – Leibniz Informationszentrum Wirtschaft. Neben der Tätigkeit an der Servicetheke liegen ihre Arbeitsschwerpunkte in der User Experience, Bibliothek als Lernort und Informationsvermittlung. Sie ist auch auf Twitter zu finden.
Porträt: Alena Behrens©
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