Zurück in die Zukunft: Was es Erstaunliches in einem Futurologie-Zettelkasten aus den 1980er-Jahren zu entdecken gibt

Gastartikel von Anna Kasprzik

Gelebte Wissensorganisation

Semantik ist die Lehre von der Bedeutung, und Wissensorganisation ist explizit gemachte Semantik. Einen Großteil meiner Studien-, Promotions- und Berufszeit habe ich an diese beiden Themen gegeben, und ich liebe besonders exzentrische Beispiele dafür, etwa Luhmanns Zettelkasten.

Im Münchner Referendariat hat unsere Inhaltserschließungsdozentin Gabriele Meßmer bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen, als sie erzählte, wie sie vor vielen Jahren als kleines Licht an einer großen deutschen Bibliothek drei Jahre lang (!) darum betteln musste, Karten in den Sachkatalog einordnen zu dürfen, denn das durften damals nur die offiziell qualifizierten Fachreferent:innen im höheren Dienst – irgendwann hatte sie ihre Vorgesetzten wohl mürbe gemacht. Später verfolgte sie mit großer Begeisterung mit, wie die Bibliothekswelt in die elektronische Datenverarbeitung eintauchte, zunächst mit Lochkarten … und wurde nach mehreren Jahrzehnten hartnäckiger Arbeit an dem Thema zu einer tragenden Säule in der Gremien- und Ausbildungslandschaft rund um die Inhaltserschließung im deutschen Bibliothekswesen. Jetzt ist sie im Ruhestand. Soviel unbeirrbare Leidenschaft für Wissensorganisation hat mich berührt und inspiriert.

Entsprechend war ich vor ein paar Jahren, als ich frisch an die ZBW gekommen war, begeistert, einmal in Kiel in den Zettelkästen herumstöbern zu dürfen, die den Vorläufer des Standard-Thesaurus Wirtschaft (STW) enthielten … und hatte mich über einen Schuber mit besonders denkwürdigen Karten gefreut. Umso aufgescheuchter war ich, als im Frühjahr diesen Jahres gemunkelt wurde, dass diese Kästen “über die Rampe gehen” sollen (oder so ähnlich, ich musste an “über die Planke schicken” denken) – “oh nein! ich muss unbedingt die ‘Futurologie’ retten!”. 😮

Foto 1: Futurologie-Zettelkasten

Glücklicherweise ließ sich meine Vorgesetzte von meinem Ungestüm anstecken und in einer Nacht- und Nebelaktion (na gut, es war helllichter Nachmittag und im Rahmen einer ordnungsgemäßen Standortfahrt nach Kiel) durfte ich den Kasten “extrahieren” und über die Hauspost zu mir nach Hamburg evakuieren, wo er jetzt sicher verwahrt ist. Seither ist mir dieser Kasten ein endloser Quell von Geschmunzel, wenn ich mal eine Pause brauche.

Eine Metaebenen-Gemengelage wie ein Escher-Bild

Warum hat es mir gerade die “Futurologie” so besonders angetan? Umgekehrt gefragt: What’s not to like? Für nerdige Semantiker:innengeister stellt die Futurologie und dieser Kasten mit Karten ab den 1960er- bis zu den 1980er-Jahren einen riesengroßen durchgeknallten Blumenstrauß an Metaebenen und Hirnwindungsverknotungen dar – eine (in keinster Weise abschließende) Aufzählung:

  • Die Menschen damals haben über die Zukunft nachgedacht, und ich bin in der Zukunft und denke nach über die Menschen, die in der Vergangenheit über die Zukunft nachgedacht haben …
  • Die Futurologie befasst sich aber nicht einfach mit der Zukunft, sondern mit der Wissenschaft davon, über die Zukunft nachzudenken …
  • Die Karten in diesem Kasten befassen sich mit Literatur, die die damalige Sicht auf die Wissenschaft davon darstellt, wie man am besten über die Zukunft nachdenkt und wie Menschen über die Zukunft nachdenken …
  • … und das Wissensorganisationssystem von damals hat mit diesem Schlagwort “Futurologie” versucht, Literatur einzuordnen, die die damalige Sicht auf … usw. usf.

Wie viele Metaebenen sind das jetzt schon? Egal, mir ist angenehm schwindelig.

Außerdem war ich fasziniert davon, wieviel man doch aus den Titeln – ohne die verzeichneten Publikationen selbst gelesen zu haben! – über das damalige Lebensgefühl und die damalige Sicht auf das nächste Jahrtausend erahnen kann, und wie erschreckend visionär oder auch wie erschreckend aktuell diese Sichten immer noch sind. Manches ist einfach lustig, bei anderem bleibt mir ein zynisches Lachen im Halse stecken.

Ich dachte, ich teile in diesem Blog-Beitrag mal ein paar ausgewählte Beispiele und gebe meinen Senf ( ➡ ) dazu.

Ein erstaunlich hellsichtiges Potpourri an Visionen

“Zu dumm für die Zukunft? Menschen von gestern in der Welt von morgen” (hrsg. von Theo Löbsack, 1971)
➡ Anscheinend saß die Angst, abgehängt zu werden, den Menschen schon vor 50 Jahren in den Knochen …

 

“Die Lust am Untergang. Pessimistische Zukunftsprognosen, eine moderne Krankheit?” (Ivo Frenzel, Sonderheft “Zukunft konkret”, 1978)
➡ Auch das können wir jetzt beantworten: Ob Krankheit oder berechtigte Immunreaktion, sie geht jedenfalls immer noch um, man scrolle sich nur mal eine halbe Stunde durch Twitter.

 

“Die gefährlichsten Jahre seit der Eiszeit. Unsere Zukunft bis zum Jahre 2000” (Karl Deutsch, “Referate im Rahmen der Festveranstaltung zum 50jährigen Bestehen der Edeka Juniorengruppe“, 1980)
➡ “Die gefährlichsten Jahre”? Wartet mal bis 2020, you ain’t seen nothing yet …

 

“In Zukunft nur ein Arbeitstag pro Woche? Die Mikroelektronik und ihre sozialen Folgen” (Frank Niess, 1981)
➡ Auch noch hochaktuell! Von Abschaffungsängsten aufgrund der fortschreitenden Automatisierung bis hin zur pandemiebeschleunigten Flexibilisierung unserer Arbeitsmethoden und Arbeitsorte mit Hilfe von “Mikroelektronik” … allerdings: die Arbeitszeit auf einen einzigen Tag pro Woche zu drücken, haben meines Wissens auch Google und andere Silicon-Valley-Unternehmen noch nicht geschafft – lieber öffentlicher Dienst, eine Chance, sich als besonders innovativ zu profilieren … ? 😉

 

“Die Probleme der Privatsphäre im Jahre 2000” (Harry Kalven, 1968 !!)
➡ Da muss ich fast nichts mehr dazu sagen. Sie haben es ALLES KOMMEN SEHEN!

 

“Falsch programmiert. Über das Versagen unserer Gesellschaft in der Gegenwart und vor der Zukunft und was eigentlich geschehen müsste” (Karl Steinbuch, 1968)
➡ Klingt ebenfalls vertraut! 😀 Ich wüsste ja so gerne, was “eigentlich geschehen müsste”, deshalb hab ich mich auch gleich auf die Suche nach dem Ding gemacht, und siehe da: Nummer 226604144 in EconBiz. Von der Seite der Einzelanzeige kommt man zumindest auf eine heitere Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (PDF, vom 25.09.1968) – Auszüge)

    “Dieses Buch ist aggressiv: Ohne das Vehikel der Provokation kommen im Zeitalter der Reizüberflutung Informationen nicht mehr an.”
    ➡ No kidding!

    “Gegenstand dieser Aggression ist die ‘Hinterwelt’, worunter der Autor alles verstanden wissen will, was uns daran hindert, eine auf Forschung und Technologie begründete naturwissenschaftliche Kultur zu entwickeln.”
    ➡ Querdenkende! Kennen wir!

    “Eine zukünftige Überlegenheit der Computer über das menschliche Gehirn hinsichtlich aller rationalen geistigen Prozesse wird die Errichtung eines den bisherigen politischen Organisationsformen überlegenen ‘Kybernetischen Staates’ möglich machen. […] ‘Hierzu bedarf es einer sorgfältigen Analyse, welche Prinzipien geeignet sind, in der zukünftigen technisierten Welt und dichten Massengesellschaft menschliches Leben möglich und lebenswert zu machen.’ Dies ist des Pudels Kern. Wer analysiert? Wer entscheidet, was wertvoll und moralisch ist?”
    ➡ Die Angst vor “der Künstlichen Intelligenz” und was “ihr” alles einfallen könnte, auch das hochaktuell.

    “Aber: [Dies erfordert auch einen neuen Glauben.] An die Qualität des künftigen Menschen, der […] nicht nur die Möglichkeit haben müßte, ‘in persönlicher Freiheit Denk- und Verhaltensformen zu entwickeln, die bisher unbekannt wären’. Der nicht allein […] eine originale Persönlichkeit sein müßte, was zu erwarten schon hohen Optimismus erfordert, sondern der auch humaner sein müßte, ein ‘besserer Mensch’ im tiefsten Sinn des abgegriffenen Wortes. Eine solche ‘moralische Mutation’ wäre ein Novum in der Geschichte des Homo sapiens.”
    ➡ Und das 300 Jahre nach Anbruch des Zeitalters der Aufklärung … tja. Sic transit gloria mundi. 😕

In diesem Sinne: Ich hoffe, der Ausflug “Zurück in die Zukunft” hat Spaß gemacht, und ich wünsche allen einen angenehmen Jahreswechsel. Bleibt gesund und munter!

P.S.: Meine Reise ins Kaninchenloch mit der letzten Publikation ging weiter ➡ Senf meiner Eltern:

Elternteil 1: “Ich glaube, ‚Falsch programmiert‘ steht im Büchertauschregal. Mal sehen, ob es noch da ist.”
Ich: “Ob sich der Autor das wohl hätte träumen lassen, dass er damit mal im Büchertauschregal endet …”
Elternteil 1: “Das war ein Bestseller. Das Buch hatte eigentlich jeder. D.h., es existieren noch ganz viele, die jetzt aussortiert werden.”
Elternteil 2: “Ja, der Steinbuch, das war ein Technokrat – von Gesellschaft verstand er nicht viel. Den hatten damals viele im Schrank, auch dein Großvater. Bei den 1968ern und der jungen Ökobewegung war er unbeliebt!”
Soso. 🙂

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Über Anna Kasprzik:

Dr. Anna Kasprzik leitet die Automatisierung der Sacherschließung (AutoSE) in der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft. Annas Arbeitsschwerpunkt liegt auf der Überführung aktueller Forschungsergebnisse aus den Bereichen Machine Learning, semantische Technologien, Semantic Web und Wissensgraphen in den Produktivbetrieb der Sacherschließung der ZBW. Anna ist auch auf Mastodon zu finden.
Porträt: ZBW©, Fotografin: Carola Gruebner

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