User Experience in Bibliotheken: Aufbau einer nutzer:innenzentrierten Organisation in der Estnischen Nationalbibliothek

Die Estnische Nationalbibliothek thront auf dem Tõnismägi-Hügel im Zentrum von Tallinn. Hier arbeiten Margus Veimann und Jane Makke im Entwicklungszentrum für Bibliotheksdienste (Library Services Development Centre) daran, die Bibliothek zu einem benutzer:innenfreundlichen und inspirierenden Ort für Mitarbeiter:innen und Nutzer:innen zu machen. Im Interview verraten sie, welche UX-Methoden sie anwenden, was der Schlüssel zu erfolgreicher UX ist und warum es so wichtig ist, zuerst die eigene Organisationskultur zu verändern.

Interview mit Margus Veimann und Jane Makke

Ihr arbeitet im Bereich User Experience (UX) in der Estnischen Nationalbibliothek. Wann und warum habt ihr damit angefangen? Was heißt das praktisch?

Margus: Meine Beziehung zu UX begann vor drei Jahren, als ich als Marketingspezialist und Social-Media-Designer in der Estnischen Nationalbibliothek tätig war. Damals hatte die Bibliothek ein Kooperationsprojekt mit den Mitgliedern des Fachbereichs für Betriebswirtschaft der Technischen Universität Tallinn (TalTech), die mich als Erste mit der Methodik des Servicedesigns vertraut machten. Während dieses Projekts kamen die Masterstudent:innen für Servicedesign und -marketing in unsere Bibliothek und machten sich mit den bestehenden Bibliotheksservices vertraut und begannen, die Designaufgaben mit Hilfe der Methodik des Servicedesigns zu lösen.

Das Ergebnis des Projekts war ein zweifaches: Einerseits konnten die Student:innen reale Probleme lösen, und andererseits lernte die Bibliothek durch diesen Prozess das Servicedesign kennen. Die wertvollste Erfahrung, die ich aus diesem Kooperationsprojekt mitnehmen konnte, war die Möglichkeit, den Wert von Design zu verstehen – als Denkweise und als Werkzeugkasten im Serviceentwicklungsprozess – sowie die Erkenntnis, dass die Einführung eines -Design-Werkzeugkastens und der Wissenstransfer innerhalb der Organisation der richtige Weg ist.

Unsere Vision ist es, eine Bibliothek der nächsten Generation zu sein und durch ein offenes, inspirierendes und integratives Arbeitsumfeld als Innovator in der Welt des Bibliothekswesens zu agieren.
– Margus Veimann

Am Ende dieses Kooperationsprojekts war klar, dass Design als Denkweise eine Reise ist, die wir als Organisation, die ein servicebasiertes Managementmodell eingeführt hat, weiter erkunden wollen. Ein Beispiel dafür ist unsere Vision, eine Bibliothek der nächsten Generation zu sein und durch ein offenes, inspirierendes und integratives Arbeitsumfeld als Innovator in der Welt des Bibliothekswesens zu agieren. Die Frage ist: Wie können wir diese Vision erreichen? Mit welchen Instrumenten, Methoden und Fähigkeiten können wir Innovationen fördern und die Schaffung benutzer:innenfreundlicher Services in der Bibliothek unterstützen? Ich bin sicher, dass der nutzer:innenzentrierte Ansatz der Schlüssel ist, um dieses Geheimnis zu lüften.

Ich denke, der Schlüssel dazu ist, das Service-Design als Werkzeugkasten einzuführen, unseren Kolleg:innen die Schlüsselprinzipien der User Experience zu vermitteln und ihnen beizubringen, wie sie verschiedene Designmethoden anwenden können, die Designer:innen und Nicht-Designer:innen anwenden, um signifikante und dauerhafte positive Veränderungen zu erreichen. Es geht vor allem um die Bereitschaft zum Experimentieren und darum, sich vor Augen zu führen, dass unsere Aufgabe darin besteht, einen Mehrwert für die Nutzer:innen zu schaffen.

Jane: Obwohl ich schon seit vielen Jahren in der Bibliothek arbeite, hatte ich 2017 zum ersten Mal die Gelegenheit, mich mit dem Konzept von UX vertraut zu machen. Das nächste Mal war 2018, als mir die Aufgabe übertragen wurde, eine Arbeitsgruppe zu bilden und zu versuchen, UX-Prinzipien auf eine Erweiterung der Bibliothekswebsite anzuwenden. Unser Team erstellte einen recht guten Prototypen, wobei wir uns bewusst waren, dass wir Anfänger:innen und Selbstlerner:innen waren. Die Idee einer solchen Erweiterung steht immer noch auf der To-do-Liste der Bibliothek, und ich hoffe, dass wir sie eines Tages auch entwickeln können. Ab 2020, als ich die Leitung des Entwicklungszentrums für Bibliotheksservices übernahm, trat Margus meinem Team als Service-Designer bei und unsere Zusammenarbeit begann.

Welche Ziele verfolgt eure Bibliothek mit UX? Habt ihr sie schon erreicht? Und welche UX-Methoden wendet ihr dabei an?

Margus: Welche Methode man verwenden sollte, hängt von vielen verschiedenen Aspekten des Projekts oder des Problems ab, mit dem man konfrontiert ist. Je nach dem wäre es am besten, Umfragen, Interviews, Beobachtungen/Job-Shadowing zu verwenden – um nur einige zu nennen. Am wichtigsten ist es, mit den Nutzer:innen zu beginnen und zunächst zu verstehen, warum und welche Art von Problem wir lösen und was wir erreichen wollen.

Das eigene Kämmerlein frühzeitig zu verlassen und mit den Nutzer:innen zu interagieren, ist ein Schlüssel. Oft denken wir, dass wir alle Antworten wüssten und die beste Lösung für die Probleme der Nutzer:innen hätten, aber genau das ist in der Regel die Quelle des Scheiterns. Es ist unabdingbar, zu experimentieren und bei jedem Projekt Nutzer:innenforschung und kleine Lernexperimente einzubeziehen. Dies ist ein Grundstein für die Schaffung von Services, die echten Mehrwert und für unterschiedliche Benutzer:innengruppen zugänglich sind.

Oft denken wir, dass wir alle Antworten wüssten und die beste Lösung für die Probleme der Nutzer:innen hätten, aber genau das ist in der Regel die Quelle des Scheiterns.
– Margus Veimann

Ich glaube wirklich, dass es in jeder Organisation viele gute Ideen und den Willen gibt, interessante Dinge zu tun, aber man muss sich entscheiden: Worauf will man den Schwerpunkt legen? Wo sollen Ressourcen investiert werden und wo nicht? Design als Methodik und Denkweise hilft dabei, in einem frühen Stadium Fakten zu schaffen, die als Entscheidungsgrundlage dienen können. Zweitens müssen Sie einen Mehrwert für Ihre Nutzer:innen bieten. Wenn eine Aktivität für die Nutzer:innen keinen Nutzen hat, ist es besser, diese Aktivität zu unterlassen. Der dritte und wichtigste Punkt ist die Veränderung der Organisationskultur. Die beiden anderen Ziele sind ebenfalls wichtig, aber die alltägliche Reise von Innovationen besteht darin, erst die Menschen und die Kultur zu verändern und dann einen Mehrwert für unsere Endnutzer:innen zu schaffen.

Jane: In der Tat war das erste und wichtigste Ziel, das Konzept des Design Thinkings als solches in unsere Organisationskultur zu integrieren. Zu diesem Zweck haben wir zwei Schulungsprogramme organisiert. Das letzte war ziemlich umfangreich und bezog eine große Anzahl unserer Mitarbeiter:innen, einschließlich der Geschäftsleitung, ein. Trotzdem gibt es immer noch viel zu tun.

Könnt ihr uns ein praktisches Beispiel für einen Fall geben, bei dem ihr mit Hilfe von UX erfolgreich ein Problem lösen konntet?

Jane: Einer der ersten Versuche, UX anzuwenden, war 2017/2018, als die Bibliothek beschloss, das Foyer neu zu gestalten. Wir starteten ein richtiges UX-Projekt: befragten die Gäste, Partner:innen sowie die Mitarbeiter:innen. Wir fragten nach ihren Gefühlen, wenn sie das Foyer betreten und während ihres Aufenthalts, was sie am meisten schätzen und vermissen und wie sie den Empfangsbereich gestalten würden, wenn sie die Möglichkeit hätten, die Dinge selbst umzugestalten. Nach den Interviews bauten wir einen realen Prototypen, um gemeinsam mit unseren Nutzer:innen einen neuen Look zu testen. Das Ergebnis war, dass wir die Lobby tatsächlich neu gestaltet haben – der Empfangsbereich, der Informationsschalter und der Sicherheitsbereich haben alle einen neuen Platz und eine neue Rolle gefunden. Es ist jedoch wichtig zu erwähnen, dass sich während der Tests herausstellte, dass die beliebteste Lösung zur Begrüßung unserer Nutzer:innen nicht funktionierte. Die baulichen Eigenheiten des Bibliotheksgebäudes haben dazu geführt, dass unsere Mitarbeiter:innen gesundheitliche Probleme entwickelten. Wir mussten also andere Möglichkeiten finden. Aber dafür sind die Tests ja da.

Lesesaal im ersten Stock der Estnische Nationalbibliothek©

Im März 2022 wird die Renovierung des Hauptgebäudes der Nationalbibliothek beginnen. Das Gebäude ist bereits seit Dezember 2021 geschlossen, und die Bibliothek zieht mit ihren Sammlungen, Mitarbeiter:innen und Büros aus. Als Zwischenlösung haben wir unsere Türen stattdessen an zwei neuen Orten geöffnet – zum einen in unserem neuen provisorischen Hauptgebäude und zum anderen in einer Außenstelle in einem der Unterhaltungs- und Einkaufszentren im Herzen Tallinns.

Außenstelle der Estnischen Nationalbibliothek© in Tallin

Die Außenstelle befindet sich neben einem der größten Buchläden Tallinns und einem beliebten Kino, es gibt zahlreiche Cafés und Restaurants, in denen man sich entspannen und amüsieren kann, und im selben Gebäude befindet sich auch ein Konzertsaal. Dies ist also ein wunderbarer Ort für die Bibliothek, um sich inmitten anderer Unternehmen ähnlicher Art niederzulassen. Die Idee für eine Außenstelle entstand während des Schulungsprogramms für Design Thinking. Während dieser Schulung kamen übrigens viele auf die Idee, Außenstellen der Bibliothek an verschiedenen Orten in der estnischen Hauptstadt zu eröffnen – angefangen von Supermärkten bis hin zum Tallinner Hauptbahnhof und sogar im Flughafen.

Um UX-Methoden anzuwenden, braucht man Bibliotheksnutzer:innen, die bereit sind mitzumachen. Wir schafft ihr es, welche zu finden und zu motivieren?

Jane: Das ist der schwierigste Teil. Glücklicherweise haben wir eine Gruppe von treuen Nutzer:innen, die bereit sind, ab und zu mitzumachen. Die Schlüssel zum Erfolg sind Beständigkeit und Respekt. Wenn man um einen Beitrag bittet, muss man ihn auch berücksichtigen, sonst verliert man an Ansehen, und diejenigen, die bereit gewesen wären, sich zu beteiligen, fühlen sich im Stich gelassen.

Margus: Es geht um Respekt und Einfühlungsvermögen, darum, wirklich zuzuhören und die Perspektive der Nutzer:innen zu erfassen.

Eine gute Praxis wäre auch, eine eigene Datenbank mit verschiedenen Nutzer:innengruppen aufzubauen. Natürlich erfordert dies im Vorfeld eine gewisse Zeitinvestition, aber auf lange Sicht schafft es einen nachhaltigen Prozess, um schnell und einfach Forschungsteilnehmer:innen zu finden. Meiner Erfahrung nach ist es auch wichtig, eine starke Zusammenarbeit und Partnerschaft mit verschiedenen Organisationen und Unternehmen aufzubauen, die bereit sind, den Aufruf zur Teilnahme zu teilen. Zusammenarbeit und Einfühlungsvermögen sind hier der Schlüssel zum Aufbau von Vertrauen und Interesse zwischen verschiedenen Nutzer:innengruppen.

Was sind eure wichtigsten Erkenntnisse, die ihr aus der Anwendung von UX-Methoden in der Estnischen Nationalbibliothek gewonnen habt?

Jane:

  • Um einen Mehrwert für die Nutzer:innen zu kreieren, müssen Sie diese einbeziehen. Wir sind keine Nutzer:innen und können nicht wissen, was sie wirklich brauchen und wollen.
  • Halten Sie es einfach: Oft wünschen sich die Nutzer:innen Einfachheit und dass diese einfachen Dinge gut funktionieren. Aber wir neigen dazu, zu viel nachzudenken und zu viel zu entwerfen. Deshalb müssen Sie Ihre Vorstellungen mit denen der Nutzer:innen abgleichen.
  • Wenn Sie die Nutzer:innen einbinden wollen, müssen Sie Ihre eigenen Vorstellungen und Ideen aufgeben, offen sein und zuhören. Wenn sich sonst herausstellt, dass die Nutzer:innen etwas anderes wollen, als Sie sich vorgestellt haben, laufen Sie Gefahr, die Wünsche der Nutzr:innen zu ignorieren, und das wäre respektlos.
  • Seien Sie geduldig und konsequent. Um Ergebnisse zu erzielen, müssen Sie Zeit investieren. Zunächst einmal sind Sie wahrscheinlich ganz allein in Ihrer Organisation. Sie müssen also Ihren Kolleg:innen verständlich machen, was User Experience ist, und sie davon überzeugen, dass UX ein hilfreiches Instrument sein kann. Ihr Ziel sollte es dabei sein, dass die Kolleg:innen sich trauen, UX-Design zu testen. Damit haben Sie den Weg zum zweiten Meilenstein geebnet, der darin besteht, ihre Einstellung zu ändern – wenn sie die ersten Ergebnisse sehen, fangen sie an, UX ernst zu nehmen und trauen sich, UX zu vertrauen, und bald wird es ein normaler Teil des (Arbeits-)Lebens Ihrer Kolleg:innen werden. Und schließlich, wenn sie zu wahren Gläubigen werden, fangen sie an, in Ihrem Namen über UX zu sprechen. Dann haben Sie Ihren Auftrag erfüllt.

Habt ihr auch schon Methoden angewendet, die so gar nicht funktioniert haben?

Jane: Wir befinden uns noch am Anfang unserer UX-Reise. Das bedeutet, dass wir noch nicht mit all den verschiedenen Methoden experimentiert haben, um zu entscheiden, welche Methoden funktionieren und welche nicht.

Aber was die Misserfolge angeht, denke ich an die Situationen, in denen wir eifrig Nutzer:innen einbeziehen, um ihren Input zu erhalten, und dann vergessen, ihn zu nutzen.

Was sind eure Tipps für Bibliotheken, die gerne mit UX anfangen würden? Was ist ein guter Startpunkt?

Jane: Zuallererst ist es sehr wichtig, eine:n Sponsor:in zu haben, der:die Ihre Ziele unterstützt. Wenn ich von Sponsor:innen spreche, meine ich das Management. Wenn sie an die Idee glauben, sind sie auch bereit, die notwendigen Ressourcen zu investieren.

Margus: Beginnen Sie mit einer Bestandsaufnahme der Ziele und der Strategie der Organisation. Erfassen Sie die bestehenden Services und ermitteln Sie Engpässe, die behoben werden müssen.

Bringen Sie die Bedürfnisse der Nutzer:innen in Erfahrung: Sprechen Sie mit Ihren Nutzer:innen und versuchen Sie herauszufinden, mit welchen Problemen sie konfrontiert sind und was ihre Ziele sind. Wie werden die Services genutzt und was sind die wichtigsten Anliegen oder Probleme der Nutzer:innen?

Definieren/spezifizieren Sie die Bedürfnisse der Nutzer:innen: Zeichnen Sie die Customer Journeys auf und ermitteln Sie, wie die Nutzer:innen Ihren Dienst nutzen. Wie kommt er:sie dorthin? Welches sind die Berührungspunkte auf dem Weg? Wenn die Nutzer:innen Ihren Service nicht erreichen, finden Sie heraus, warum.

Identifizieren Sie interessante Analogien: Bietet eine andere Organisation ähnliche Services an? Was machen sie anders?

Schauen Sie sich den Rahmen für Innovationen “Double Diamond” des britischen Design-Councils an und beginnen Sie zu experimentieren und zu lernen, indem Sie etwas tun.

Bitten Sie Ihre:n Bibliothekar:in, eine Liste von Büchern über Service Design und User Experience zusammenzustellen. Ich würde vorschlagen, mit “Good Services – How to Design Services that Work” von Lou Downe und “The Design of Everyday Things” von Don Norman zu beginnen.

Dieser Text ist eine Übersetzung aus dem Englischen.

Das könnte Sie auch interessieren:

Wir sprachen mit:

Jane Makke arbeitet seit Januar 2020 als Leiterin des Entwicklungszentrums für Bibliotheksservices an der Estnischen Nationalbibliothek (NLE). Sie ist seit vielen Jahren im Bibliothekssektor in den Bereichen Kundenservice, Datenmanagement und IT-Entwicklung tätig. In den letzten Jahren lag ihr Schwerpunkt auf der Gestaltung und Entwicklung landesweiter Bibliotheksservices.
Porträt, Fotograf: Teet Malsroos© [CC BY 4.0]

Margus Veimann is Service Designer in the Estnischen Nationalbibliothek . Er ist der Meinung, dass in einer sich schnell verändernden Welt das auf den Menschen ausgerichtete Design zu einer wichtigen Komponente bei der Schaffung erfolgreicher Produkte und Dienstleistungen geworden ist, unabhängig davon, ob wir Räume, Dienstleistungen oder Produkte entwerfen. In diesem Sinne würde er seine Arbeit kurz wie folgt beschreiben: Vereinfachung der Komplexität, um nutzer:innenzentrierte Designlösungen durch Co-Kreation zu ermöglichen, die einen positiven Einfluss auf Menschen, Umwelt und die Gesellschaft haben.
Porträ: Margus Veimann©

Diesen Blogpost teilen:

Fehlende deutsche Übersetzung

Open Economics: Studie zu Open-Science-Prinzipien und -Praxis in den Wirtschaftswissenschaften Trend-Monitoring, Teil 1: Trends finden und erkennen NMC Horizon Report 2017 Library Edition: Digital Citizenship fördern

View Comments

Open Badges: Sinnvoller Leistungsnachweis für die Weiterbildung in Bibliotheken?
Nächster Blogpost