Blick hinter die Kulissen: UNESCO erklärt Buchbinderei zum immateriellen Kulturerbe

von Claudia Sittner

Was ist Immaterielles Kulturerbe?

Die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation (UNESCO) fasst hierunter „Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten, die Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Einzelpersonen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen“, heißt es im Merkblatt zur Bewerbung für das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes (PDF). Auch das traditionelle Handwerk ist dafür geeignet. Beispiele für Immaterielle Kulturerbe sind die Deutsche Brotkultur, der Hessische Kratzputz, das Märchenerzählen oder die Ostfriesische Teekultur.

Elke Schnee, die Gebärdensprache und die Buchbinderei in der ZBW

Um zu erklären, was ZBW-Mitarbeiterin Elke Schnee mit der UNESCO zu tun hat, muss man etwas ausholen. Schnee arbeitet seit ziemlich genau 40 Jahren in der Buchbinderei der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft, in der sie in den 1980er Jahren schon ihre Ausbildung und etwas später ihren Meister gemacht hat, um wenig später die Leitung der damals recht großen Buchbinderei zu übernehmen.

Dort gab es zwei gehörlose Auszubildende, die fortan unter ihrer Obhut standen. Aus der Situation heraus machte sie den Ausbildereignungstest und lernte vier Jahre Gebärdensprache. Vor allem habe sie die Gebärdensprache aber in der Praxis gelernt, in den Gesprächen mit Kolleg:innen und Auszubildenden, so Schnee. „Ich hab‘ mich gleich an meinem ersten Tag in der ZBW in die Gebärdensprache verliebt.

Gebärdensprache: für Elke Schnee war es selbstverständlich sie auch zu erlernen

Da waren schon zwei Gehörlose, und ich war fasziniert, wie die sich unterhielten. Ich hab‘ dann gleich mehrere Gebärden gelernt“, berichtet die Buchbindermeisterin. Im Videointerview erinnert sie sich noch genau an die ersten vier Worte: Buch, Kaffee, Milch und Feierabend. Für sie war es schon immer wichtig, alle Mitarbeiter:innen und Auszubildende zu integrieren. Jede:r sollte gehört und verstanden werden.

Im Laufe der Jahre hat sie 33 Auszubildenden gezeigt, wie das alte Handwerk der Buchbinderei in all seinen Facetten funktioniert. Davon waren 18 Prozent gehörlos. Heute bildet die Buchbinderei der ZBW nicht mehr aus, und damit steht sie nicht allein da: Wurden 2019 bundesweit noch 150 Personen zum:zur Buchbinder:in ausgebildet, waren es 2020 nur noch 60. „Wir müssen jetzt zusammenhalten und zusammenarbeiten, sonst geht das jahrhundertealte Wissen nach und nach verloren“, appelliert Schnee.

Der BDBI und die UNESCO

Nicht allein dieser Rückgang hat den Bund Deutscher Buchbinder (BDBI), bei dem sich Elke Schnee seit einigen Jahren engagiert, dazu bewogen, sich um eine ganz besondere Auszeichnung zu bewerben: die Aufnahme in die Liste des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO. „Bevor wir zur aussterbenden Art erklärt werden, schien uns das eine gute Maßnahme zu sein“, erklärt Schnee. Ermutigt fühlten die BDBI-Mitglieder sich dazu, weil sie öfter von ähnlichen Handwerken wie zum Beispiel dem Orgelbau hörten, die aufgenommen worden waren. Die Kriterienliste der UNESCO bestätigte schnell, dass das Handwerk der Buchbinderei für die Bewerbung geeignet war.

Hintergrund UNESCO in Deutschland

Die Würdigung als Immaterielles Kulturerbe hat die UNESCO erst 2003 ins Leben gerufen. Unter dem Motto „Wissen.Können.Weitergeben“ wurden seither rund 580 überwiegend Handwerke und Traditionen aus 130 Ländern in die internationale Liste aufgenommen. Daneben gibt es die nationalen Verzeichnisse. Deutschland ist dem UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes 2013 beigetreten. Aktuell stehen auf der nationalen Liste insgesamt 131 Einträge (PDF), darunter Orgelbau, Biikebrennen oder Blaudruck.

Jedes Bundesland darf pro Jahr vier Vorschläge beim Sekretariat der Kultusministerkonferenz einreichen. Sofern die Kultusministerkonferenz sie befürwortet, werden diese maximal 64 Vorschläge an das Expertenkomitee Immaterielles Kulturerbe der Deutschen UNESCO-Kommission weitergegeben. Nach eingehender Prüfung spricht das Komitee Empfehlungen aus und gibt diese zur Bestätigung an die Kulturministerkonferenz und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. Erst nach diesem mehrstufigen Verfahren wird das Immaterielle Kulturerbe in das Bundesverzeichnis eingetragen. Gold und Juwelen gibt es für diesen Status nicht. Warum nimmt man den Aufwand trotzdem auf sich?

Die Bewerbung als Immaterielles Kulturerbe

Zurück zu Elke Schnee: Sie gehört seit 2019 dem Vorstand des BDBI an, erst als Gastmitglied, seit 2021 offiziell gewählt. Und in dieser Funktion ist sie in ebenjene Arbeitsgruppe gerutscht, die sich mit der Bewerbung um die Aufnahme befasst hat.

Eines Morgens saß Schnee nichtsahnend in ihrer ersten BDBI-Vorstandssitzung, als es hieß, es müssten schnellstmöglich zwei Empfehlungsschreiben organisiert werden. Schnell fand sie dann zwei Unterstützende in der ehemaligen Kieler Oberbürgermeisterin Susanne Gaschke und in ZBW-Direktor Klaus Tochtermann. Nachdem diese Hürde genommen war, reichte der Berufsverband im November 2019 seine Bewerbung beim Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen ein, dem Sitzland des BDBI.

Warten auf die UNESCO

Zwischendurch erfuhr der Verband, dass er eine erste Hürde auf dem Weg zum Immateriellen Kulturerbe genommen hatte: Sein Vorschlag hatte es unter die Top 4 von NRW geschafft. Knapp 1,5 Jahre nach der Bewerbung, mitten in der Corona-Pandemie im Frühjahr 2021 kam dann die gute Nachricht: Die Buchbinderei hatte es auf die Liste der Immateriellen Kulturgüter der UNESCO geschafft. Die Feier fiel coronabedingt klein aus, eine Urkunde wurde überreicht und das Logo durfte fortan verwendet werden.

„Das Buchbinderhandwerk hat eine wichtige Funktion für das kulturelle Erbe und die Erinnerungskultur“, heißt es im aktuellen Bundesweiten Verzeichnis Immaterielles Kulturerbe (PDF). Und weiter: „Trotz der Digitalisierung hat das Buchbinderhandwerk nicht an Lebendigkeit verloren. Es trägt insbesondere zum Erhalt von alten Büchern und Archivgut bei. Interessierte Laien haben die Möglichkeit, an Volkshochschulen oder in privaten Werkstätten Kurse zu besuchen und so die Grundlagen des Buchbinderhandwerks zu erlernen.“

UNESCO Kulturerbe, und jetzt?

Auf die Frage, was ihr diese Auszeichnung persönlich bedeutet, meint Elke Schnee: „Natürlich ist es schön zu wissen: Das ist ein Beruf, den finde nicht nur ich toll, der hat so einen Charme, dass viele Menschen den gut finden. Aber ansonsten ist es für mich eher: Ok, soweit sind wir jetzt schon, so wenige sind wir jetzt schon, dass wir Artenschutz bekommen.“

Gefreut hat sich Elke Schnee dann aber doch: Denn gleichzeitig mit dem Buchbinderhandwerk hat es auch die deutsche Gebärdensprache auf die Liste der Immateriellen Kulturerbe der UNESCO geschafft.

Allen, die auch über eine Bewerbung nachdenken, empfiehlt sie: „Einfach machen! Man kann ja nur gewinnen.“ Wichtig sei es, die Fristen im Auge zu behalten, sich Hilfe und mehr Leute ins Boot zu holen sowie parallel und strukturiert vorzugehen. Die Checkliste auf der Website der deutschen UNESCO würde helfen.

Buchbinderei bald Weltkulturerbe?

Einmal im Jahr nimmt der Zwischenstaatliche UNESCO-Ausschuss neue Immaterielle Kulturformen sowie gute Praxisbeispiele der Erhaltung Immateriellen Kulturerbes der Menschheit in die internationalen UNESCO-Listen auf. Deutschland ist hier bisher mit fünf Eintragungen beteiligt. Eingetragen sind

  • das Bauhüttenwesen,
  • der Blaudruck,
  • die Genossenschaftsidee und -praxis,
  • die Falknerei sowie
  • Orgelbau und Orgelmusik.

Und vielleicht findet irgendwann ja auch das Buchbinderhandwerk Eingang in diese internationale Liste, zumal es die Buchbinderei in fast allen Ländern der Welt gibt. Das Schrumpfen dieser Berufsgruppe in Zeiten der Digitalisierung wird das zwar nicht verhindern, aber zumindest werden so gute Bedingungen geschaffen, die Menschen dafür zu sensibilisieren, dass es schützens- und erhaltenswert ist.

Und Elke Schnee?

Die denkt über ein Buch über das Handwerk der Buchbinderei nach, damit das jahrhundertealte Wissen um die Bücher auch wirklich nicht verloren geht. Bücher und das Handwerk der Buchbinderei abzuschaffen, kommt für sie nicht infrage: „Wenn die Menschen nur noch digital arbeiten, müssen sie später zur Ergotherapie, wo sie dann Korbflechten und Buchbinden lernen. Einfach damit sie gesund bleiben.“

Und wenig später: „Mich erfüllt das mit Glück, wenn ich abends nach einem Werkstatttag meine Arbeit sehe. Ich hatte gestern so einen Tag. Das war so toll zu sehen, was ich gemacht habe. Ich war fertig, hab das Buch nochmal in die Hand genommen und dachte, das war ein guter Tag.“

Das könnte Sie auch interessieren:

Über die Autorin:

Claudia Sittner studierte Journalistik und Sprachen in Hamburg und London. Sie war lange Zeit Referentin beim von der ZBW herausgegebenen Wirtschaftsdienst – Zeitschrift für Wirtschaftspolitik und war Redakteurin des Blogs ZBW MediaTalk. Außerdem ist sie freiberufliche Reise-Bloggerin, Rednerin und Autorin. Sie ist auch auf LinkedIn, Twitter und Xing zu finden.
Porträt: Claudia Sittner©

Bilder: ZBW©, Fotograf:innen: Sven Wied, ZBW

Diesen Blogpost teilen:

Claudia Sittner studierte Journalistik und Sprachen in Hamburg und London. Sie war lange Zeit Referentin beim von der ZBW herausgegebenen Wirtschaftsdienst – Zeitschrift für Wirtschaftspolitik und ist heute Redakteurin des Blogs ZBW MediaTalk. Außerdem ist sie freiberufliche Reise-Bloggerin. (Porträt: Claudia Sittner©)

World Wide Wissenschaft – Wie Forschende im Internet arbeiten ZBW bringt EconBiz Mobile nun auch auf Android-Smartphones ZBW-Direktor Klaus Tochtermann im BuB-Interview: "Wir müssen das Thema evangelisieren"

View Comments

Best Practice an der ZHB Luzern: Agiles Arbeiten im Kontext von kleinen und großen Bibliotheken
Nächster Blogpost