User Experience in Bibliotheken: Einblicke aus der Universitätsbibliothek Hildesheim

Ein Interview mit Jarmo Schrader und Ninon Frank

Die vielen Facetten von User Experience (UX) lassen sich unmöglich in einem einzigen Artikel abdecken. Deswegen nähern wir uns dem Thema mit einer internationalen Interviewserie mit vielen Best Practices, persönlichen Einblicken und Tipps für alle, die selbst gern mit UX starten möchten: zur UX-Interviewserie.
Heute zu Gast: Jarmo Schrader und Ninon Frank von der Universitätsbibliothek Hildesheim (UB Hildesheim). Ihre Geheimtipps:

  1. „allein mit einem Lächeln und einer freundlichen Ansprache [kommt man] erstaunlich weit“,
  2. zuerst die „low hanging fruits“ einsammeln und
  3. im Zweifel einfach ausprobieren und ummöblieren.

Gestartet hat ihre „Mission UX“ mit einem inspirierenden, internen Workshop zum Thema. Ihre Methoden reichen dabei von Guerilla-Interviews über Think-Aloud-Tests bis hin zu Flipcharts mit einer Frage, die sie gern von ihren Nutzer:innen beantwortet hätten – ihre Lieblingsmethode im Übrigen. Im Interview verraten sie uns, warum es so wichtig ist, qualitative Beobachtungen durch quantitative Methoden zu ergänzen, was ihre drei wichtigsten Learnings aus 2,5 Jahren UX-Erfahrung sind und warum eine rote Couch für einen kleinen Entrüstungssturm auf ihrem Facebook-Account gesorgt hat.

Jarmo und Ninon, ihr arbeitet im Bereich User Experience in der Universitätsbibliothek Hildesheim. Wann und warum habt ihr damit angefangen? Was bedeutet das praktisch?

Jarmo: Es war uns schon immer wichtig, einen Service zu bieten, der sich an unseren Nutzenden orientiert. Den Einstieg in eine bewusste Beschäftigung mit dem Thema User Experience war dann aber ein Workshop mit dem UX-Experten Andy Priestner, den ich im Frühjahr 2019 besucht habe. Die Veranstaltung hat mir so gut gefallen, dass wir ihn im Sommer zu einem internen Workshop in die UB Hildesheim eingeladen haben. Das waren dann anderthalb sehr intensive und fruchtbare Tage, die schließlich die Basis für unsere Aktivitäten im Bereich UX bildeten.

Ninon: Der Workshop war der Auftakt zu verschiedenen Projekten. So haben wir überlegt, wie unser Lesesaal für Nutzende attraktiver werden könnte oder wie wir einen Bereich, in dem vorher Zeitschriftenschränke standen, so ausstatten können, dass er den Bedarfen unserer Nutzenden entgegenkommt.

Universitätsbibliothek Hildesheim©

Praktisch bedeutete das, dass wir mit den uns zur Verfügung stehenden Möbeln verschiedene Einrichtungsszenarien als Prototyp umgesetzt und dann ausgetestet haben. Dabei haben wir den Nutzenden ermöglicht, Feedback zu geben (meist über einen ausgelegten Feedbackzettel). Wir haben die Nutzung aber auch statistisch erhoben, um einen Vergleich zwischen Aussagen und tatsächlicher Nutzung machen zu können.

Was sind eure Ziele mit UX? Habt ihr sie erreicht?

Ninon: Unser langfristiges Ziel ist es, Services und Räumlichkeiten mehr an die Nutzenden anzupassen und damit eine höhere Nutzung zu erreichen. Da sich die Bedarfe aber immer wieder ändern, ist es nicht so, dass wir irgendwann einen Zustand erreicht haben, in dem wir sagen können: Das bleibt jetzt so für die Ewigkeit.

Jarmo: Ich sehe UX auch mehr als Teil eines Mindsets, eine Fähigkeit, an der man laufend arbeiten kann, und nicht unbedingt als ein festes Ziel, das wir erreichen müssen.

Welche UX-Methoden wendet ihr in der UB Hildesheim an?

Ninon: Während des Workshops haben wir verschiedene Methoden kennengelernt. Was wir seitdem machen, sind Guerilla-Interviews sowie Beobachtungen. Guerilla-Interviews bedeutet, dass wir uns ein kleines Fragenset überlegen und damit auf Menschen in der Bibliothek oder auf dem Campus zugehen. Außerdem legen wir Feedbackbögen aus oder stellen Flipcharts für Kommentare und Anmerkungen der Nutzenden auf.

Jarmo: Den Relaunch unseres Online-Katalogs HilKat haben wir mit UX-Methoden begleitet. Dabei hat uns ein Student im Rahmen seiner Masterarbeit tatkräftig unterstützt und Think-Aloud-Tests via Videokonferenz durchgeführt. Dazu haben Testpersonen verschiedene Aufgaben im neuen HilKat gelöst und dabei laut „gedacht“, sodass wir nachvollziehen konnten, wo es Stolperstellen bei der Bedienung gibt, welche Funktionen gut ankommen und welche evt. nicht richtig verstanden werden.

Könnt ihr uns ein praktisches Beispiel nennen, das funktioniert hat, bei dem ihr UX angewendet habt, um ein Problem zu lösen?

Jarmo: Wir haben bei uns einen kleinen Lesesaal, der unserer Ansicht nach viel zu wenig genutzt wurde. Basierend auf Beobachtungen hatten wir die Vermutung, dass wir die Attraktivität durch weniger, aber dafür größere Tische steigern könnten. Als wir testweise eine Hälfte des Raumes entsprechend ummöbliert hatten, stieg tatsächlich die Nutzung, und wir erhielten positives Feedback in begleitenden Befragungen. Am Ende führte eine Reduktion der Plätze um ein Viertel zu mehr als doppelt so hoher Nutzung. Ein voller Erfolg!

Kleiner Lesesaal der Universitätsbibliothek Hildesheim© nach der Umgestaltung

Ninon: Ein weiteres Beispiel wäre unsere Idee, mobile Trennwände zwischen Tischen aufzustellen, damit Nutzende mehr Privatsphäre haben. Unsere Prototypen wurden in den Feedbackbögen sehr negativ aufgenommen. Wir haben diese Idee dann nicht weiter verfolgt. So haben wir tatsächlich auch Geld gespart.

Mobile Trennwände in der Universitätsbibliothek Hildesheim©

Um UX-Methoden anzuwenden, braucht man Bibliotheksnutzer:innen, die bereit sind, mitzumachen. Wie schafft ihr es, diese zu finden und zu motivieren?

Jarmo: Wir haben uns bisher auf eher einfache Methoden beschränkt, bei denen die Nutzer:innen nicht viel Zeit aufwenden müssen. Dadurch hatten wir keine größeren Probleme.

Während unseres Workshops mit Andy Priestner, bei dem wir auch Dinge wie Interviews oder Cognitive Maps ausprobierten, haben wir darüber hinaus die Erfahrung gemacht, dass man allein mit einem Lächeln und einer freundlichen Ansprache erstaunlich weit kommt.

Ninon: Viele Nutzende nehmen erstaunlich bereitwillig an solchen Beteiligungsmethoden teil. Gerade auch, wenn wir Flipcharts mit einer Frage aufstellen, bekommen wir immer Feedback. Das ist richtig toll!

Was sind die – sagen wir mal – drei wichtigsten Lektionen, die ihr bei der Anwendung von User-Experience-Methoden in der Universitätsbibliothek Hildesheim gelernt habt?

  • Einfach machen!
  • Auch aus Fehlschlägen kann man etwas lernen.
  • Nutzer:innen wissen auch nicht, was sie wollen. (Sie müssen es erst austesten können.)

Habt ihr auch mal Methoden verwendet, die überhaupt nicht funktioniert haben? Was waren eure größten oder lustigsten Fehlschläge?

Ninon: Wir haben einen Wunsch aufgegriffen und testweise in unserer Leselounge Essen und Trinken erlaubt. Dazu haben wir die gemütlichen Möbel, die vorher zum „Chillen“ da waren – unter anderem eine rote Couch -, an anderen Orten in der Bibliothek untergebracht, und stattdessen abwischbare Tische und Stühle hingestellt. Das Feedback lautete so: Ja, das ist toll, aber wo ist die rote Couch geblieben?

Feedback “wo ist die rote Couch geblieben?” – Universitätsbibliothek Hildesheim©

Sogar auf Facebook, wo zuvor nur sehr wenig Resonanz kam, wurde dieses Fehlen angemerkt. Wir haben die Couch dann wieder aufgestellt, was auch prompt mit positiver Resonanz belohnt wurde.

Was sind eure Tipps für Bibliotheken, die mit UX beginnen möchten? Was ist ein guter Startpunkt?

Jarmo: Beginnt mit den „low hanging fruits“, also mit Problembereichen, die man bereits kennt, und Veränderungen, die sich mit relativ wenig Aufwand angehen lassen. Erste Erfolge dabei sorgen dann für die nötige Motivation weiterzumachen. Für diese Projekte genügen meist auch einfache UX-Methoden. Fortgeschrittene Techniken kann man sich dann für später aufheben.

Unsere Erfahrung hat auch gezeigt, dass man qualitative Beobachtungen durch quantitative Methoden ergänzen sollte, da sonst die Gefahr groß ist, dass man voller Tatendrang nur das sieht, was man sehen möchte.

Das könnte Sie auch interessieren:

Wir sprachen mit:

Dr. Jarmo Schrader ist seit 2008 stellvertretender Leiter der Universitätsbibliothek Hildesheim an der er die IT-Abteilung leitet und Fachreferate im MINT-Bereich betreut. Er ist promovierter Molekularbiologe und arbeitet schwerpunktmäßig im Bereich der digitalen Bibliotheksdienstleistungen.
Porträt: Jarmo Schrader©, Fotograf: Isaias Witkowsk

Dr. Ninon Franziska Frank ist Fachreferentin für Erziehungs-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der Universitätsbibliothek Hildesheim und arbeitet zudem in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit und Informationsvermittlung. Bevor sie wissenschaftliche Bibliothekarin wurde, hat sie im Cotutelle-Verfahren (einem binationalen Promotionsverfahren) zwischen der Universität Erfurt und der Université de Paris Ouest Nanterre La Défense in französischer Literaturwissenschaft promoviert. Sie interessiert sich vor allem für Einsichten in die Bedarfe von Nutzenden.
Porträt: Ninon Franziska Frank©

Featured Image: Universitätsbibliothek Hildesheim©

Diesen Blogpost teilen:

Fehlende deutsche Übersetzung

Fachreferatsarbeit: angekettet oder „unchained“? Logistik-Innovationen: Mit Drohnen, Big Data und Social Delivery gegen #icanhazPDF? Trends 2024: Revolution am Arbeitsplatz durch Nutzung alter und neuer Technologien

View Comments

Open Science & Bibliotheken 2022: 22 Tipps für Konferenzen, Barcamps & Co.
Nächster Blogpost