European Open Science Cloud: von Einzelprojekten, großen Plänen und 1 Milliarde Euro
Die Gemengelage in Bezug auf Forschungsdatenumgebungen auf nationaler, europäischer und globaler Ebene ist kompliziert. In einem Podcast-Interview hat Vorstandsmitglied der frisch gegründeten EOSC Association, Prof. Dr. Klaus Tochtermann, das Wirrwarr entzerrt. Die Kernergebnisse des Interviews haben wir im Blogpost zusammengefasst.
von Claudia Sittner
Prof. Dr. Klaus Tochtermann ist Direktor der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft, Mitglied im Rat für Informationsinfrastrukturen (RfII) sowie Vorstandsmitglied der kürzlich gegründeten European Open Science Cloud Association (EOSC Association). Viele Jahre war er Mitglied der High Level Expert Group der EOSC sowie der EOSC-Arbeitsgruppe für Nachhaltigkeit. Außerdem hat er 2012 den Leibniz-Forschungsverbund Open Science initiiert, die internationale Open Science Conference und das dazugehörige Barcamp Open Science ins Leben gerufen.
Als Interviewgast hat er im ZBW-Podcast „The Future is Open Science“ mit Gastgeberin Dr. Doreen Siegfried (ZBW) über die Zukunft der European Open Science Cloud und die Komplexität der Landschaft für Forschungsdaten gesprochen. Dieser Blogpost ist eine Kurzversion der Podcast-Folge „European Open Science Cloud – Internet of FAIR Data and Services“ mit Klaus Tochtermann. Die ganze Folge (35 Minuten) kann hier nachgehört werden.
Warum der Name European Open Science Cloud noch nie passte
Was viele überraschen wird: „Die Begrifflichkeiten EOSC haben schon 2015 nicht gepasst“, so Tochtermann. Schon damals, als erste Ideen für die EOSC aufkamen und Einzelprojekte an den Start gingen, sei sie weder European, noch Open, noch Science, noch eine Cloud gewesen:
„Sie ist nicht European, weil Forschung nicht an regionalen Grenzen Europas endet, sondern viele Forschungsgruppen international vernetzt sind. Sie ist nicht open, weil es auch in der Wissenschaft Daten gibt, die einen Schutzbedarf haben, beispielsweise Patientendaten. Sie ist nicht Science, weil viele wissenschaftliche Forschungsprojekte auch Daten aus der Wirtschaft nutzen. Und sie ist nicht Cloud, weil es nicht darum geht, alle Daten zentral in einer Cloudlösung abzulegen“, erklärt Klaus Tochtermann.
Der Begriff sei damals von der Europäischen Kommission vorgegeben worden und nun etabliert. Unter Expert:innen würde der Begriff „Internet of FAIR Data and Services“ (IFDS) präferiert, so Tochtermann.
Vorbereitungsphase 2015 bis 2020
Die EOSC ist 2015 mit dem Ziel gestartet, „europäischen Forscher:innen, Innovator:innen, Unternehmen und Bürger:innen ein gemeinsames und offenes multidisziplinäres Umfeld zu bieten, in dem sie Daten, Werkzeuge und Dienste für Forschungs-, Innovations- und Bildungszwecke veröffentlichen, finden und wiederverwenden können.“ (Europäische Kommission, eigene Übersetzung).
Seither wurden 320 Millionen Euro in die Hand genommen, um damit 50 Projekte im Umfeld von Forschungsdatenmanagement zu finanzieren. Sie haben allerdings nur Einzelaspekte der EOSC beleuchtet. “Tatsächlich ist man noch ein Stück weit davon entfernt, eine EOSC operativ im Wissenssystem anbieten zu können”, so Tochtermann.
Die Mittel waren in ein Forschungsrahmenprogramm eingebunden, das jeweils nur kleinere Projekte finanzierte, was an der Funktionsweise der Europäischen Kommission und deren Art, Forschung zu fördern, liegt. Deswegen gab es nicht ein großes EOSC-Projekt, sondern viele kleine Einzelprojekte. Hier hat man auf Aspekte geschaut wie: „Wie kann eine Suchmaschine für Forschungsdaten aussehen? Wie können Identifikatoren für Forschungsdaten gemanagt werden?“, erläutert der ZBW-Direktor.
Großprojekte EOSC Secretariat und EOSC Future
Dann ging die EOSC mit zwei Großprojekten in die nächste Phase: mit dem EOSC Secretariat und EOSC Future. Laufzeit: 30 Monate. Budget: 41 Millionen Euro. Beide sollen alle bisherigen Projekte in Richtung EOSC zusammenführen, also Konvergenz schaffen und ein „System EOSC“ tatsächlich aufsetzen. Alle kleinen Puzzleteile aus früheren Einzelprojekten werden nun zu einem großen EOSC-Bauplan zusammengefügt.
Gründung der EOSC Association
2020 wurde nun die EOSC Association gegründet. Das ist eine formale Einrichtung und eine Stiftung unter belgischem Recht. Sie ist in Brüssel angesiedelt und soll alle Aktivitäten bündeln. Um die Aktivitäten zu koordinieren, wurde ein Vorstand eingesetzt. Dieser besteht aus dem Präsidenten Karl Luyben und weiteren acht Mitgliedern, darunter Klaus Tochtermann.
Festgelegt, was die EOSC Association in den nächsten Jahren erreichen soll, wurde in der Strategischen Forschungs- und Innovationsagenda (PDF, Strategic Research and Innovation Agenda – kurz SRIA ) im Februar 2021. Alle EOSC-Projekte müssen sich fortan an diesen SRIA-Richtlinien orientieren.
Erster Zeitplan für die European Open Science Cloud
Die Strategischen Forschungs- und Innovationsagenda sieht unterschiedliche Entwicklungsstufen mit genau festgelegten Zeitplänen vor. Basisfunktionalitäten fallen in die Stufe „EOSC Core”, die bis 2023 umgesetzt werden soll. Hier sollen Elemente wie die Suche, das Speichern oder eine Einlogfunktion realisiert werden. Danach läuft „EOSC Exchange“ an, wo es um kompliziertere Funktionalitäten und Services für spezielle Datenanalysen von Forschungsdatensätzen geht.
Zusammenarbeit EOSC Association und Europäische Kommission
Auf die Frage, wie das Zusammenspiel von European Open Science Cloud Association und Europäischer Kommission ist, betont Tochtermann das gute Verhältnis zur Kommission. Den Rahmen dafür bilde das für alle neue Partnership-Modell, das noch mit Erfahrung gefüllt werden müsse. Manchmal seien die Zeitfenster, in denen sich die Kommission von der EOSC Association Reaktionen wünsche, jedoch sehr schmal. „Da bin ich sehr froh, dass wir einen sehr starken Präsidenten der EOSC Association haben, der auch das Rückgrat hat, dass wir nicht immer mit solchen kurzen Zeitfenstern konfrontiert sind, wo mitunter Reaktionen einfach nicht möglich sind, weil die Thematik zu komplex ist. Aber insgesamt funktioniert es gut“, resümiert Tochtermann.
Finanzierung der EOSC Association: 1 Milliarde Euro
Für die nächsten zehn Jahre wird 1 Milliarde Euro zur Entwicklung der EOSC zur Verfügung gestellt, zur Hälfte von der Europäischen Kommission, zur Hälfte von den 27 Mitgliedsstaaten der EU. Das wurde von Dezember 2020 bis Juli 2021 zwischen Europäischer Kommission und EOSC Association ausgehandelt und in einer Vereinbarung (PDF, Memorandum of Understanding) festgehalten.
Weitere finanzielle Mittel wirbt die EOSC Association über Mitgliedsbeiträge ein. Klaus Tochtermann dazu: „Mitglied sind nicht Einzelpersonen, sondern Organisationen wie beispielsweise die ZBW oder der NFDI-Verein in Deutschland. (…) Bei den Mitgliedern unterscheidet man zwischen zwei Arten, man kann Vollmitglied sein, dann ist man überall stimmberechtigt und zahlt derzeit einen Betrag von 10.000 Euro pro Jahr. Man kann Observer sein. Dadurch (…) hat man eher eine beobachtende Rolle, darf aber z.B. in der Generalversammlung nicht mit abstimmen. Als Observer zahlt man 2.000 Euro.“ Durch die Beiträge von den aktuell 200 Mitgliedern hat die EOSC Association ein Jahresbudget von etwa 1,5 Millionen Euro. Damit soll unter anderem in der Geschäftsstelle Personal aufgebaut werden.
EOSC, NFDI und Gaia-X: unübersichtliche Gemengelage?
Neben der EOSC gibt es in Deutschland und Europa weitere Projekte zur Umsetzung von großen Forschungsdateninfrastrukturen. Die wohl bekanntesten unter ihnen aus deutscher Sicht sind die Nationale Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) und Gaia-X. Technisch haben alle drei Projekte – EOSC, NFDI und Gaia-X – miteinander zu tun: Alle sind technische Infrastrukturen. Was aber unterscheidet sie?
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Nationale Forschungsdateninfrastruktur
Neben der europäischen EOSC gibt es in Deutschland die NFDI, die vom Rat für Informationsinfrastrukturen gegründet wurde.
Bei der NFDI gehe es wie bei der EOSC um die technische Infrastruktur für Forschungsdaten, aber auch um die Vernetzung von Personen, also der Wissenschaftscommunity, so Tochtermann. Die NFDI fokussiere sich dabei auf einzelne Disziplinen wie beispielsweise die Wirtschafts-, Sozial-, Materialwissenschaften oder Chemie.
Über das NFDI-Direktorat, eine zentrale Koordinierungsstelle, werden die einzelnen NFDI-Initiativen schließlich zusammengeführt, sodass sie ineinanderwirken. Das geschieht über Arbeitsgruppen und gilt vor allem bei disziplinübergreifenden bzw. -unabhängigen Themen. Klaus Tochtermann nennt dazu folgende Beispiele:
- digitale Langzeitarchivierung von Forschungsdaten,
- Vergabe von eindeutigen Identifikatoren für einen Datensatz,
- Single Login oder Single Sign-In für die Forschungsdateninfrastruktur NFDI,
- Interoperabilität der Systeme,
- einheitliche Metadatenstandards sowie
- einheitliche Protokolle.
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Gaia-X
Auf der anderen Seite gibt es Gaia-X: „Die Gaia-X ist eine Initiative, die zum Ziel hat, Unternehmen in Deutschland und Europa eine europäische Infrastruktur für das Management, also das Speichern beispielsweise ihrer Daten anzubieten, weil eben sehr viele ausweichen auf Angebote aus Amerika oder China“, erläutert Tochtermann.
Neben der Zielgruppe (auch Wirtschaft, Unternehmen) unterscheidet sich Gaia-X von der EOSC oder der NFDI auch in Bezug auf die große Rolle, die das Thema Datensouveränität in dem Projekt spielt. Klaus Tochtermann fasst das wie folgt zusammen: „Datensouveränität heißt, wenn ich Daten bereitstelle, kann ich jederzeit nachverfolgen, wer meine Daten für welche Zwecke verwendet. Und wenn ich es nicht möchte, kann ich auch sagen ‘Da sollen meine Daten nicht hingehen’.“
Wie kann man sich über die EOSC informieren?
Das EOSC-Portal ist eine Informationsplattfom, die über Angebote informiert, die später bei der EOSC eine Rolle spielen werden. Da geht es beispielsweise um Dienste und Services wie europäische Forschungsdatenrepositorien. Ein guter erster Ansatzpunkt, um sich mit der EOSC zu beschäftigen.
Mitmachen bei der Entwicklung der EOSC
Wer sich für die EOSC engagieren möchte, kann das in den Advisory Groups tun. Davon wurden zunächst sechs gegründet, die sich mit Themen wie Curricula im Bereich Forschungsdaten, FAIR Data oder Metadatenstandards befassen. Zur Mitarbeit in diesen Gruppen gab es einen offenen Aufruf, auf den um die 500 Bewerbungen eingegangen sind. Die meisten davon kamen aus Frankreich (18 Prozent) und Deutschland (17 Prozent), was zeige, wie sehr die EOSC bereits in beiden Ländern angekommen sei, so Tochtermann. Mit einer Auswahl aus diesen 500 Bewerbungen werden nun die sechs Arbeitsgruppen besetzt.
Auf der Website der EOSC Association finden sich ansonsten auch regelmäßig „Calls and Grants“, auf die sich Interessierte bewerben können, oder Stellenausschreibungen. Für aktuelle Informationen kann man den monatlichen Newsletter abonnieren oder der EOSC Association auf Twitter @eoscassociation folgen.
Weiterführende Links
- Folge 12 vom ZBW-Podcast „The Future is Open Science“ mit Prof. Dr. Klaus Tochtermann zur European Open Science Cloud
- EOSC Association
- EOSC Portal
- EOSC Secretariat
- EOSC Future
- Gaia-X – A Federated Secure Data Infrastructure
- Nationale Forschungsdateninfrastruktur (NFDI)
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Claudia Sittner studierte Journalistik und Sprachen in Hamburg und London. Sie war lange Zeit Referentin beim von der ZBW herausgegebenen Wirtschaftsdienst – Zeitschrift für Wirtschaftspolitik und ist heute Redakteurin des Blogs ZBW MediaTalk. Außerdem ist sie freiberufliche Reise-Bloggerin. Sie ist auch auf LinkedIn, Twitter und Xing zu finden.
Porträt: Claudia Sittner©
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