FIT4RRI: Offene Forschung und Innovation verantwortungsvoll gestalten
Die Bewegungen von Open Science und Responsible Research & Innovation (RRI) sind eng miteinander verbunden: Sie teilen die Grundwerte Offenheit, Inklusion und Demokratie und haben das gemeinsame Ziel, wissenschaftliche Ergebnisse auf allen Ebenen für eine wissbegierige Gesellschaft zugänglich zu machen. Doch die Entwicklung schreitet nur zögerlich voran. Warum das so ist, hat das EU-geförderte Projekt FIT4RRI untersucht. Ein Interview mit Projektmitarbeiterin Helene Brinken.
im Interview mit Helene Brinken
Das von der EU geförderte Projekt „Fostering improved training tools for Responsible Research and Innovation“ (FIT4RRI) lief von 2017 bis 2020. Aufgabe war es, zu analysieren, warum der Einsatz von RRI in der Forschung noch immer mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen hat. Was sind die größten Hindernisse? Und wie kann ein ausbalanciertes Maß an Offenheit gelingen – im Spannungsfeld aus einem reformbedürftigen wissenschaftlichen Anreizsystem, zunehmend prekären Arbeitsbedingungen für Forschende und administrativen Hürden?
Am Projekt waren zwölf internationale Partnerinstitutionen beteiligt, unter ihnen die Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Dort arbeitete Helene Brinken, die uns im Interview die wichtigsten Erkenntnisse aus dem Projekt verrät, aber auch teilt, was aus Projektsicht die größten Hürden waren. Sie stellt das Dokument „Starting the Process“ kurz vor, das Richtlinien enthält, um Institutionen bei der Implementierung von RRI und Open Science zu unterstützen. Am Ende gibt sie Tipps, wie an Open Science interessierte Forschungseinrichtungen von den Erkenntnissen aus FIT4RRI profitieren können und welchen Beitrag Bibliotheken im Speziellen leisten können.
Zunächst einmal zu den Begriffen: Responsible Research & Innovation (RRI) ist im Zentrum eures Projektes. Was genau ist das und wie hängt RRI mit Open Science zusammen?
Der Begriff „Responsible Research & Innovation“ (etwa „Verantwortung übernehmende Forschungs- oder Innovationsprozesse“) wird von der Europäischen Kommission seit etwa einem Jahrzehnt genutzt, um einen Ansatz zu definieren, mit dem wir gesellschaftlichen Herausforderungen, wie zum Beispiel der Bewältigung von Gesundheitskrisen, der Sicherung der Welternährung und der Schaffung nachhaltiger Energie- und Transportsysteme, begegnen können.
RRI und Open Science teilen die Grundwerte von Offenheit, Inklusion und Demokratie. Unter Open Science verstehen wir die Bewegung, wissenschaftliche Ergebnisse sowie die dazugehörigen Daten und Methoden für alle Ebenen einer wissbegierigen Gesellschaft zugänglich zu machen.
RRI ist in seiner Definition umfassender und bezieht Themen wie Ethik, Gender, Public Engagement und Science Education zusätzlich zu Open Access mit ein (vergleiche RRI Tools). In dieser Bandbreite fokussiert sich RRI vor allem auf einen „verantwortungsvollen Prozess” und die damit verbundene Einbeziehung aller betroffenen Akteure aus Wissenschaft, Politik, Industrie und der Zivilgesellschaft. Ein in diesem Sinne Verantwortung übernehmender Forschungs- oder Innovationsprozess ist divers und inklusiv, sowie offen und transparent.
Diese Punkte zeigen die enge Verbindung zu Open Science. Ein RRI-Prozess ist zudem noch antizipativ und reflexiv, das heißt es wird versucht, potenzielle (negative) Konsequenzen vorauszusehen und die Auswirkungen des eigenen Handelns stetig zu reflektieren. Weitere wichtige Merkmale eines Prozesses gemäß RRI sind Reaktionsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit, um auf die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse auch zu reagieren und das eigene Handeln möglicherweise anpassen zu können.
Worum genau ging es euch bei dem FIT4RRI-Projekt? Was wolltet ihr herausfinden?
FIT4RRI zielt auf die Verbesserung des Lernangebots zu den Themen Responsible Research & Innovation (RRI) und Open Science ab. Wir haben Online-Kurse entwickelt, die auf der Plattform FOSTER bereitgestellt werden.
Lernangebote wie Workshops und Webinare wurden durchgeführt und Richtlinien zur Umsetzung von RRI in Forschungs- und Forschungsfördereinrichtungen entwickelt. FIT4RRI möchte so zu der institutionellen Verankerung von RRI- und Open-Science-Praktiken beitragen.
Ein wichtiger Teil des FIT4RRI-Projektes war eine umfassende Literaturanalyse zu RRI und Open Science. Was sind eure wichtigsten Erkenntnisse daraus?
Der Fokus im Projekt lag auf der Untersuchung der Gründe für eine zögerliche Umsetzung von RRI und Open Science mit dem Ziel, Empfehlungen für wissenschaftliche und wissenschaftsfördernde Einrichtungen abzuleiten.
Die erste Analyse fokussierte sich auf nationale und sektorale Unterschiede. Während das nationale Umfeld für die Implementierung von RRI und Open Science weniger wichtig erscheint, sind die Unterschiede zwischen Sektoren in der Tat beträchtlich: Laut Van Lente et al. (“FIT4RRI D2.2 – WP2 Summary Report”) sind die Art der Forschung und die Beziehungen zu den Interessengruppen von großer Bedeutung. Insbesondere komme es darauf an, wie etabliert oder neuartig die Sektoren seien.
In einer zweiten umfassenden Literaturanalyse (FIT4RRI D1.1 – Report on the Literature Review) wurden Trends identifiziert, die unser Wissenschaftssystem aktuell kritisch beeinflussen. Es wurden zudem Interessen, Werte und Treiber festgestellt, die die Umsetzung von RRI und Open Science fördern, aber auch Barrieren, die die Implementierung verlangsamen oder gar verhindern.
Wo wurden eure Erkenntnisse konkret angewendet?
Vier der zwölf Partnerinstitutionen von FIT4RRI haben RRI- und Open-Science-Praktiken in ein lokales Vorhaben integriert oder in institutionelle Rahmenbedingungen implementiert. So wurde beispielsweise an der Sapienza Universität in Rom das erste RRI-basierte Forschungszentrum umgesetzt.
In dem unabhängigen Non-Profit-Institut Instituto de Soldadura e Qualidade (ISQ) in Portugal wurde zudem ein RRI-Modell für die Forschungstätigkeiten der Abteilung Forschung und Entwicklung gemeinsam mit den angestellten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erarbeitet. Diese „Experimente“ dienten dazu, die Erkenntnisse aus der Literaturanalyse mit Erfahrungen aus der praktischen Umsetzung zu ergänzen und ein Bewusstsein für RRI innerhalb des Instituts zu schaffen.
Was sind aktuell kritische Trends und die größten Barrieren im Wissenschaftssystem, die die Umsetzung von RRI und Open Science verlangsamen oder sogar verhindert?
Die Untersuchungen der Kolleginnen und Kollegen D’Andrea et al. (Report on the Literature Review) ergaben, dass unser Wissenschaftssystem stark von Konkurrenzkampf und Publikationsdruck geprägt ist. Weitere Themen, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler derzeit beeinflussen, sind steigende Mobilität, eine hohe Aufgabendiversität, aber auch eine relativ geringe Zahl an unbefristeten Verträgen.
Zudem wird die Verwaltung von Forschungs- und Forschungsförder-Einrichtungen mit der wachsenden Interaktion zu externen Akteuren aus Politik, Zivilgesellschaft und Industrie zunehmend komplexer. Ein ausbalanciertes Maß an Offenheit befindet sich somit im Spannungsfeld von konzeptionellen Unklarheiten sowie Unstimmigkeiten einerseits und abnehmendem Vertrauen in die Wissenschaft andererseits.
Dabei konnten wir verschiedene Ebenen von Barrieren feststellen. Es gibt Hindernisse, die mit dem (nicht) vorhandenen Bewusstsein für RRI- und Open-Science-Konzepte zusammenhängen. Weitere wichtige Einflussfaktoren sind, ob eben diese als relevant, effektiv und nachhaltig wahrgenommen werden beziehungsweise es in der Umsetzung auch tatsächlich sind (vgl. Critical trends shaping science). Um diese Hindernisse zu überwinden und so der praktischen Umsetzung von RRI und Open Science in Institutionen näher zu kommen, wurden im Kontext von FIT4RRI Empfehlungen entwickelt.
Wie müssen sich institutionelle Rahmenbedingungen ändern, um eine bessere Einbettung von Open Science und RRI zu ermöglichen?
Institutionen können offene, inklusive Kommunikationsräume schaffen, um Dialoge über die institutionelle Weiterentwicklung zu ermöglichen. Offene Wissenschaft kann von Institutionen aktiv gefördert werden. Sie können administrative Hürden verringern, Fortbildungen anbieten, Anreize setzen und Vorbild sein. Das Engagement von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für verantwortungsvolle und offene Wissenschaft muss als wertvoller Beitrag für die Wissenschaftsgemeinschaft gewürdigt und anerkannt werden, um den Kulturwandel voranzubringen.
Inwiefern können an Open Science interessierte Forschungseinrichtungen eure Projektergebnisse für sich nutzen?
Im Projekt wurden Richtlinien entwickelt, um Institutionen bei der Implementierung von RRI und Open Science zu unterstützen. Allerdings erheben diese Empfehlungen nicht den Anspruch, fertige Lösungen für das Umsetzungsproblem anzubieten. Ihr Hauptziel ist es, einen Weg vorzuschlagen, um institutionelle Veränderungsprozesse in Richtung RRI und Open Science in ihrer Organisation zu aktivieren, und zwar in einer Weise, die so durchführbar, nachhaltig und nützlich wie möglich ist.
Das aus dem FIT4RRI-Projekt entstandene Dokument „Starting the process” umfasst Richtlinien und Empfehlungen für:
- Interpretationen, das heißt wie die eigene Institution von aktuellen Trends betroffen ist und wie sie mit diesen umgehen kann.
- Entscheidungen, die getroffen werden müssen, um Steuerungsprozesse zu initiieren.
- Handlungen, um das Vorhaben einer strukturellen Änderung hin zu RRI und Open Science in die Tat umzusetzen.
Insgesamt handelt es sich um 30 Empfehlungen. Online zu finden ist eine Kurzzusammenfassung der Empfehlungen aus den Richtlinien zu Governance-Einstellungen für verantwortungsvolle und offene Wissenschaft sowie das gesamte Dokument inklusive einer umfassenden Sammlung an Beispielen und weiteren Ressourcen mit Hintergrundtexten und zusätzlichen Literaturverweisen: FIT4RRI-Richtlinien zu Governance-Einstellungen für RRI und OSC.
Wie können speziell Bibliotheken diesen kulturellen Wandel praktisch noch stärker vorantreiben?
Wissenschaftliche Bibliotheken sind meist eng mit Forschungseinrichtungen verbunden. Sie sind insbesondere Ansprechpartnerin, wenn es um Literaturbeschaffung und Publikationen geht. In dieser Rolle können sie ihren Einfluss in vielerlei Hinsicht geltend machend. Neben Beratungs- und Fortbildungsangeboten können Bibliotheken stabile und nutzerfreundliche Infrastrukturen und Services entwickeln, die offenen Standards entsprechen und Forschenden die Umsetzung von Open Science erleichtern.
Auch eine aktive Rolle bei der Vernetzung von Akteuren ist durch die Organisation regelmäßiger Treffen zu Themen aus RRI und Open Science denkbar. Zudem können Bibliotheken sich als Vertragspartnerin der Verlage in Verhandlungen als Fürsprecherin von Open Access positionieren. Nicht zuletzt können auch Bibliotheken selbst ihre institutionellen Prozesse „verantwortungsvoller” gemäß RRI gestalten, nämlich divers und inklusiv, antizipativ und reflexiv, offen und transparent, sowie reaktions- und anpassungsfähig.
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Der FIT4RRI-Abschlussgipfel findet digital vom 29. September bis 01. Oktober 2020 statt. Die Registrierung öffnet am 01. September 2020. Die Agenda sowie technische und organisatorische Details werden in Kürze online veröffentlicht. Die neuesten Informationen finden sich auch im FIT4RRI-Newsletter.
Ein Interview mit Projektmitarbeiterin Helene Brinken.
Helene Brinken war bis Ende April 2020 an der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen für die Kommunikation und die Öffentlichkeitsarbeit des FIT4RRI Projekts zuständig. Aktuell ist sie im open-access.network-Projekt an der TIB – Leibniz-Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften und Universitätsbibliothek in Hannover beschäftigt, wo sie die Umsetzung von Open Access untersucht und Lernmaterialien erstellt.
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