Zukunftsreport: Wer kann das Wissenschaftssystem transformieren?

Der Bericht “Future of scientific publishing and scientific communication – Report of the expert group to the European Commission” wurde Ende Januar 2019 veröffentlicht. Er analysiert vergangene Entwicklungen sowie den Stand der wissenschaftlichen Kommunikation und des Publizierens in der heutigen Zeit mit Schwerpunkt auf Zeitschriften und Artikeln.

Die Autorinnen und Autoren des Berichts schlagen zehn Prinzipien vor, die eine Vision für die wissenschaftliche Kommunikation für die nächsten zehn bis 15 Jahre bilden. Darüber hinaus nutzen sie diese zehn Prinzipien, um Defizite des derzeitigen Wissenschaftssystems zu identifizieren. Auf dieser Grundlage formulieren sie Empfehlungen an die Hauptakteure, wie die gefundenen Defizite überwunden werden können.

Grundprinzipien der wissenschaftlichen Kommunikation

Die Autorinnen und Autoren des Reports stellen fest, dass trotz tiefgreifender Veränderungen im Umfeld, die sich auch auf das wissenschaftliche Publizieren ausgewirkt haben, der Prozess selbst ziemlich stabil geblieben ist. Dazu gehören vier Schlüsselfunktionen, die seit dem 17. Jahrhundert mehr oder weniger unverändert geblieben sind: Registrierung (Attribution), Zertifizierung (Peer Review), Verbreitung (Distribution, Zugriff), Bewahrung (wissenschaftliches Gedächtnis und Langzeitarchivierung). In den letzten Jahrzehnten war die Evaluation, insbesondere in Form des Journal Impact Factor (JIF), auch eine stark mit dem wissenschaftlichen Publizieren verbundene Funktion, wird aber immer mehr in Frage gestellt. So spielt das von Verlagen dominierte wissenschaftliche Publizieren (als formalisierte Teilmenge der wissenschaftlichen Kommunikation) nach wie vor eine große Rolle in der wissenschaftlichen Kommunikation im Allgemeinen. Digitale Technologien eröffnen völlig neue Wege für die wissenschaftliche Kommunikation im Sinne jeder Form des Austauschs, der von Forschenden zur Erarbeitung von Wissen genutzt wird. Aber ihr Potenzial wird derzeit kaum genutzt. Neue Technologien und Services ermöglichen es den Forschenden, nicht nur die Kontrolle über Teile der wissenschaftlichen Veröffentlichung (zum Beispiel Registrierung und Verbreitung) zurückzugewinnen, sondern auch den Forschungszyklus zu öffnen und ein viel breiteres Spektrum an Aktivitäten der wissenschaftlichen Kommunikation anzuwenden.

In diesem Zusammenhang schlug die Expertengruppe eine Reihe von Schlüsselprinzipien zur Charakterisierung und Förderung der wissenschaftlichen Kommunikation vor, die auch dazu beitragen können, ein effektives Weltgedächtnis zu erreichen:

  1. Maximierung des Zugangs
  2. Maximierung der Benutzerfreundlichkeit
  3. Unterstützung eines wachsenden Spektrums wissenschaftlicher Beiträge
  4. eine verteilte, offene Infrastruktur
  5. Gerechtigkeit, Vielfalt und Inklusivität
  6. Community-Bildung
  7. Förderung hochqualitativer Forschung und ihrer Integrität
  8. Erleichterung der Bewertung
  9. Förderung von Flexibilität und Innovationen
  10. Kosteneffizienz

Aktuelle Defizite des wissenschaftlichen Kommunikationssystems

Als aktuelle Mängel des Systems der wissenschaftlichen Kommunikation listet der Bericht auf:

  • Open Access ist noch lange nicht am Ziel angekommen, 100% an offenen Publikationen zu erreichen. Darüber hinaus ist die Nutzung selbst bei Open-Access-Publikationen oft aufgrund unklarer oder fehlender Zugriffslizenzen auf Inhalte eingeschränkt.
  • Technisch gesehen wird das Publikationssystem immer noch vom traditionellen Artikel dominiert, oft im PDF-Format. Auch die Interoperabilität der Plattformen bleibt aufgrund des Wettbewerbs zwischen den Verlagen begrenzt.
  • Der Wettbewerb, der um Rankings und den Impact-Faktor entfacht ist, verschärft strukturelle Ungleichheiten (wie Geld, Ressourcen, Prestige). Dies ist insofern bemerkenswert, als dass viele Studien feststellt haben, dass solche Metriken zu simpel sind und sogar den Forschungsprozess deformieren können.
  • Verschiedene Formen von Verzögerungen (Peer Review, Embargos) behindern den Aufbau von Communities in der Forschung. Im Hinblick auf den Zertifizierungsprozess (Peer Review) wird er zunehmend für Verzerrungen, Intransparenz und andere Mängel kritisiert.
  • Da kommerzielle Unternehmen neue Technologien eher als Wettbewerbsfaktoren betrachten, werden Fragmentierung und Lock-in-Taktiken bevorzugt.
  • Dem Zeitschriftenmarkt selbst fehlt es an Transparenz in Bezug auf die Produktionskosten und Preisgestaltung.

Auf der Grundlage der Analyse dieser Defizite werden Empfehlungen für die wichtigsten Akteure des wissenschaftlichen Kommunikationssystems ausgesprochen.

Empfehlungen für Forschende

Forscherinnen und Forscher stehen im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Ökosystems. Sie haben zwei verschiedene Rollen: als Informationssuchende auf der einen Seite und als Statussuchende auf der anderen Seite. Als Statussuchende werden sie stark vom Belohnungssystem, den Instrumenten zur Bewertung ihrer Arbeit und dem damit verbundenen Wettbewerb beeinflusst, während diese gleichzeitig die für die Förderung der Forschung erforderliche Zusammenarbeit behindern. Deshalb müssen Forschende Wege finden, um Konkurrenz mit Kooperation und Zusammenarbeit in Einklang zu bringen.

Um die derzeitigen Mängel des Systems zu überwinden, sollten sich Forschende und Forschungscommunities bei der Teilnahme an der Forschungsbewertung auf den Nutzen und die Auswirkungen der Arbeit der Forscher konzentrieren, anstatt (journal-basierte) Metriken zu verwenden. Sie sollten die Verantwortung dafür übernehmen, alle Forschungsergebnisse offen zugänglich, auffindbar und wiederverwertbar zu machen. Darüber hinaus sollten sie das Bewusstsein und das Verantwortungsbewusstsein für die Auswirkungen des Verhaltens bei der Wahrnehmung von Rollen als Autoren, Gutachterinnen und Mitglieder von Entscheidungsgruppen stärken. Damit wird auch der Notwendigkeit Rechnung getragen, eine ausgewogene und vielfältige Vertretung (in Bezug auf Geschlecht, Geographie und Karrierestufe) anzustreben, zum Beispiel bei der Suche nach Kooperationen, der Organisation von Konferenzen und der Einberufung von Ausschüssen. Sie sollten auch zu einer stärkeren Anerkennung und Wertschätzung der Peer-Review-Arbeit als zentrale Forschungsaufgabe beitragen und mehr Transparenz fördern. Forschungscommunities, zum Beispiel Fachgesellschaften, sollten Strategien und Praktiken entwickeln, die zur Vision der wissenschaftlichen Kommunikation beitragen. Sie sollten ihre Forschenden zur Bedeutung und Verantwortung für die Wissensvermittlung trainieren.

Empfehlungen für Universitäten und Forschungseinrichtungen

Universitäten und Forschungszentren haben zum Ziel, die Forschung und die Verbreitung von Wissen zu fördern. Sie werden jedoch auf verschiedene Weise finanziert und ihre Finanzierung steht im Zusammenhang mit Bewertungen und Rankings. Dies führt dazu, dass sich viele Institutionen um bessere nationale und internationale Rankings bemühen. So arbeiten Universitäten und andere Forschungseinrichtungen zusammen und konkurrieren gleichzeitig miteinander. Ihre Forschungsergebnisse offen verfügbar, auffindbar und wiederverwendbar zu haben, kommt den Forschungsinstitutionen zugute, und sie verfügen auch über die Fähigkeit, ihr internes Vergütungssystem und ihre Anreize zu ändern, Bereiche die die größten Auswirkungen zur Förderung des Wandels haben. Universitäten und Forschungseinrichtungen sollten daher Richtlinien und Praktiken entwickeln, die sicherstellen, dass alle Forschungsbeiträge nach vereinbarten Communitystandards offen verfügbar, auffindbar und wiederverwendbar gemacht werden. Sie sollten Plattformen wählen, die auf freier oder quelloffener Software aufbauen, offene Daten unterstützen und nach Möglichkeit offene Standards verwenden. Sie sollten auch die Rolle ihrer Bibliotheken als Zugangspunkte zu Wissen und wichtige Akteure in Bezug auf wissenschaftliche Kommunikation und Publikation unterstützen sowie bei der Forschungsevaluierung ein breites Spektrum wissenschaftlicher Beiträge berücksichtigen. Das Streben nach einer ausgewogenen und vielfältigen Repräsentanz verschiedener Gruppen gehört auch zu ihren Aufgaben bei Einstellungen, der Suche nach Kooperationen, bei der Suche nach Redakteurinnen und Redakteuren und Peer-Reviewern und so weiter. Bei Verhandlungen mit Serviceprovidern sollten sie Geheimhaltungsklauseln ablehnen und auf Klauseln zur Kosten- und Preiskontrolle sowie zur Compliance-Überwachung bestehen.

Empfehlungen für Forschungsförderer und politische Entscheidungsträger

Während der Bewertung von Förderanträgen werden Forschungsförderer und politische Entscheidungsträger oft in die Bewertung von Forschungseinrichtungen einbezogen. Diese Bewertungen, die in der Regel auf messbaren Leistungen basieren, verschärfen den Wettbewerb. Da sie selbst die quantitativen Parameter solcher Evaluationen festlegen, haben Forschungsförderer einen starken Einfluss auf alle Funktionen der wissenschaftlichen Kommunikation und besitzen damit die Kraft, den Wandel zu fördern, da sie momentan die stärksten Akteure des Wandels sind. Zu diesem Zweck sollten Forschungsförderer und politische Entscheidungsträger Strategien und Finanzierungsmechanismen entwickeln, die geeignet sind, alle von ihnen finanzierten Forschungsbeiträge uneingeschränkt allen zugänglich zu machen. Sie sollten auch sicherstellen, dass bei der Bewertung von Forschenden ihr breites Spektrum von Forschungsbeiträgen und -aktivitäten berücksichtigt wird. Ihre Finanzierungsmechanismen sollten die Entwicklung und den langfristigen Betrieb offener, miteinander verbundener und verteilter wissenschaftlicher Publikationsinfrastrukturen unterstützen. Darüber hinaus sollten sie die globalen Auswirkungen der Förderpolitik auf die Vielfalt und Einbeziehung der Forschung reflektieren. Forschungsförderer und politische Entscheidungsträger sollten auch mit den anderen Schlüsselakteuren des Wissenschaftssystems zusammenarbeiten, um die Gesamtkosten von Open Science transparent zu machen.

Empfehlungen für Verlage und andere Serviceanbieter

Sowohl kommerzielle als auch gemeinnützige Verlage konkurrieren miteinander und sind derzeit die wichtigsten Dienstleister für alle Schlüsselfunktionen der wissenschaftlichen Kommunikation für die anderen Schlüsselakteure des Wissenschaftssystems. Verlage haben die Möglichkeit und sollten sie nutzen, um an neuen Bewertungssystemen zu arbeiten, werden dies aber wahrscheinlich nur dann tun wollen, wenn sie einen wirtschaftlichen Mehrwert sehen.

Lawson, S., Gray, J. and Mauri, M., 2016. Opening the Black Box of Scholarly Communication Funding: A Public Data Infrastructure for Financial Flows in Academic Publishing. Open Library of Humanities, 2(1), p.e10., DOI

Verlage und andere Dienstleister sollten so schnell wie möglich Pläne für den Übergang zu umfassendem Open Access machen. Sie sollten interoperable Tools und Services unterstützen, um den Zugang zu wissenschaftlichen Ergebnissen und deren Wiederverwertbarkeit zu erleichtern, aber auch innovative Interventionen neuer Marktteilnehmer fördern. Als Schlüsselakteure sollten sie auch auf eine Vielfalt der Personen, die mit Publikationen arbeiten, hinwirken. Sie sollten Transparenz und Rechenschaftspflicht bei Peer Review sowie bei den Veröffentlichungsgebühren fördern und so die Entwicklung eines transparenten und kostengünstigen Marktes ermöglichen.

Empfehlungen für Praktiker, Pädagoginnen, Schüler und andere soziale Gruppen

Akteure mit einem beruflichen oder persönlichen Interesse an der Forschung (zum Beispiel Patienten, Beamtinnen, Bürger, die an einem bestimmten Thema beteiligt sind, und viele mehr) werden in diese heterogene Gruppe, die breite Gesellschaft insgesamt, einbezogen. Diese Gruppe sollte bei der Festlegung von Forschungsprioritäten mitwirken und kann auch an bestimmten Arten von Forschungsprojekten teilnehmen (etwa Datenerhebungen via Crowdsourcing).

Praktikerinnen, Pädagogen und andere gesellschaftliche Gruppen sollten den freien Zugang zu öffentlich finanzierten Forschungsergebnissen und das Recht auf deren Wiederverwendung anstreben und organisieren. Zu diesem Zweck sollten sie sich an Geldgeber, Forschungseinrichtungen und politische Entscheidungsträger wenden und auf die Entwicklung neuer Kommunikationskanäle, neuer Formen der Co-Kreation, die Mitplanung von Forschung auf Basis von Fragen der Bevölkerung insgesamt hinarbeiten.

Evaluierungssystem als wichtigstes Element des Forschungssystems

Der Report kommt zu dem Schluss, dass das Bewertungssystem das wichtigste strukturelle Element des derzeitigen Forschungsökosystems ist. In einer wettbewerbsorientierten Atmosphäre kann leicht vergessen werden, dass Forschungsbeiträge ein öffentliches Gut darstellen, und die Arbeit an den Prinzipien und Visionen der wissenschaftlichen Kommunikation und des Publizierens kommt leicht zu kurz. Das ist ein Grund dafür, dass die digitalen Technologien in den letzten 25 bis 30 Jahren so wenig dazu beigetragen haben, ihre Versprechen zu erfüllen, und Zeitschriftenartikel immer noch das System dominieren. In diesem Zusammenhang sollten die Empfehlungen von “DORA” (San Francisco Declaration on Research Assessment) und “Leiden Manifesto” in der Bewertung von Forschungsleistung umgesetzt werden.

Obwohl er nicht für diesen Zweck konzipiert wurde, hat der JIF einen starken Einfluss auf die Forschenden, wenn es darum geht, zu entscheiden, was sie lesen, zu welchen Themen sie forschen und wo sie ihre Ergebnisse veröffentlichen. Er kann auch die Veröffentlichung beispielsweise sehr innovativer Artikel behindern, da Redakteurinnen und Peer-Reviewer mit der Suche nach Zitationen auf der einen Seite und dem Streben nach Qualität auf der anderen Seite konfrontiert werden. So hat der JIF laut Bericht eine ungesunde Macht über das Forschungssystem. Aber die Abschaffung seines universellen Einsatzes würde eine ganze Reihe von Herausforderungen für die verschiedenen Akteure und ihre Bewertungsrituale mit sich bringen.

Aus dem Wissenschaftssystem heraus stehen nur Förderorganisationen etwas außerhalb der Reichweite des JIF, da sie selbst nicht danach bewertet werden. Da sie auch einen großen Teil der Forschungsmittel kontrollieren, können die Förderorganisationen von der größtmöglichen Unabhängigkeit des Forschungssystems profitieren und sollten eine Führungsrolle bei der Verbesserung des wissenschaftlichen Kommunikations- und Publikationssystems übernehmen. Nur sie haben die Macht, alle wichtigen Akteure des Ökosystems der wissenschaftlichen Kommunikation zusammenzubringen (im besten Fall), um gemeinsam an der Zukunft des offenen wissenschaftlichen Publizierens und der wissenschaftlichen Kommunikation zu arbeiten. Immer mit Blick auf ihre Kernaufgabe: “Wissen zu fördern und das öffentliche Wohlergehen zu verbessern.”

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Birgit Fingerle ist Diplom-Ökonomin und beschäftigt sich in der ZBW unter anderem mit Innovationsmanagement, Open Innovation, Open Science und aktuell insbesondere mit dem "Open Economics Guide". (Porträt: Copyright

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