Interview: Wie Open Science die Welt wissenschaftlicher Bibliotheken verändert

Thomas Gerdes hat sich in seiner Masterarbeit mit dem Thema “Die Open-Science-Bewegung und ihre Bedeutung für die wissenschaftlichen Bibliotheken – Eine Analyse von Positionspapieren und Entwicklungsperspektiven” beschäftigt. Dabei standen ein Soll-Ist-Vergleich und die Entwicklungsperspektiven für Open Science in wissenschaftlichen Bibliotheken im Vordergrund. Wir haben ihn dazu befragt.

Wie bist Du in Deiner Masterarbeit vorgegangen?

Der Begriff „Open Science“ fasst heterogene Bestrebungen nach einer offeneren Wissenschaft zusammen. Was Open Science für wissenschaftliche Bibliotheken bedeutet, wird in einer Vielzahl von Positionspapieren und anderen Publikationen diskutiert. Meine Arbeit vergleicht den dort formulierten Soll-Zustand mit dem Ist-Zustand in der Bibliothekslandschaft. Darüber hinaus werden Möglichkeiten für die weitere Entwicklung von Open Science in wissenschaftlichen Bibliotheken aufgezeigt. Sehr gefreut hat mich, dass ich für die Arbeit auch mehrere deutsche und europäische Open-Science-Expertinnen und Experten als Interviewpartner gewinnen konnte.

Drei Forschungsfragen gliedern die Arbeit: Erstens: Welche Aussagen zum Thema Open Science finden sich in Positionspapieren, die für wissenschaftliche Bibliotheken relevant sind? Zweitens: Inwieweit sind die wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland und der EU bereits im Bereich Open Science aktiv? Drittens: Welche Entwicklungsperspektiven gibt es für Open Science in den wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland?

Welches sind die Schlüsselpunkte, die Du identifiziert hast?

Eine treibende Kraft bei der Implementierung von Open Science ist die EU, etwa mit dem Positionspapier Open Innovation, Open Science, Open to the World.

Aber auch auf nationaler Ebene gibt es eine Vielzahl von Beiträgen. Die beiden zentralen Aspekte von Open Science sind zurzeit Open Access und Open Data. In meiner Arbeit habe ich zudem Aussagen zu Open Metrics, Open Peer Review, Open Educational Resources sowie Citizen Science untersucht.

Bei der praktischen Umsetzung von Open Science übernehmen einige Staaten wie Finnland, die Niederlande und Großbritannien eine Vorreiterrolle. Auch innerhalb Deutschlands sind einzelne Bibliotheken besonders aktiv. Open-Access-Beauftragte, Policies, Repositorien und Zeitschriften sind oftmals bereits etabliert. Außerdem werden vor dem Hintergrund einer angestrebten Transformation des wissenschaftlichen Publikationswesens hin zu Open Access in mehreren Bibliotheken bereits Publikationsfonds eingerichtet. Im Bereich Open Data beteiligen sich Bibliotheken an der Entwicklung von Projekten entlang des Lebenszyklus‘ von Forschungsdaten.

Hervorzuheben ist, dass wissenschaftliche Bibliotheken nicht immer im Mittelpunkt der Open-Science-Positionspapiere stehen. Bei der praktischen Umsetzung sind sie oftmals auf Partner, etwa Rechenzentren, angewiesen. Open Science muss daher als Gemeinschaftsprojekt begriffen werden, weshalb eine gute Vernetzung der Bibliotheken elementar ist.

Wie sollten sich Bibliotheken aufstellen? Was würdest Du empfehlen?

In jeder Bibliothek sollte zumindest Grundwissen und ein Informationsangebot zu Open Science vorhanden sein. Die Bandbreite der wissenschaftlichen Bibliotheken reicht von großen Universitätsbibliotheken, die eine Vielzahl von Fachgebieten abdecken, bis hin zur Bibliothek eines kleinen Instituts, das ausschließlich zu einem Spezialthema forscht. Aufgrund dieser Heterogenität sollten Bibliotheken ihre Open-Science-Aktivitäten grundsätzlich in Abhängigkeit von ihrem spezifischen Profil entwickeln und umsetzen.

Um auch in einer zunehmend digitalisierten und offenen Wissenschaftslandschaft konkurrenzfähig zu bleiben, sollten Bibliotheken dauerhaft den Markt beobachten. Auf diese Weise können sie entlang des Forschungskreislaufes nachfrageorientierte Angebote entwickeln. Des Weiteren empfiehlt sich eine Beschäftigung mit dem Innovationsmanagement. Denkbare Strategien wären, sich einem bereits existierenden Trend anzuschließen oder neue Initiativen anzustoßen. In der Zusammenarbeit mit anderen Bibliotheken und Stakeholdern aus der Forschung oder Wirtschaft können hierbei eigene Expertisen angeboten und die der anderen genutzt werden. Reizvoll erscheint auch die Idee einer deutschland- oder europaweiten Open-Science-Ideenbörse.

Wie könnten Bibliotheken in zehn Jahren aussehen?

Die Bibliotheken der Zukunft sollten, so wie bereits heute, dazu beitragen, Wissen und Informationen möglichst vielen Menschen ohne Schranken zugänglich zu machen. Von der Open-Science-Bewegung gehen in diesem Zusammenhang wichtige Impulse aus. Ob und inwieweit diese umgesetzt werden können, wird das Ergebnis eines komplexen Aushandlungsprozesses sein. Wissenschaftler*innen, Hochschulen, Wissenschaftsverlage und selbstverständlich auch Bibliotheken verfolgen dabei jeweils eigene Interessen und Ziele. Kompromisse zu finden ist oft schwierig, aber nicht unmöglich, wie etwa die DEAL-Verhandlungen zeigen.

Die Digitalisierung der Wissenschaft und die Verbreitung von Open Science werfen allerdings auch die Frage auf, ob Bibliotheken zukünftig noch eine tragende Rolle im Wissenschaftssystem zukommen wird. Sicher scheint, dass sich die Aufgaben und wahrscheinlich ebenso die organisatorischen Strukturen von Bibliotheken deutlich ändern werden. Andreas Degkwitz kann sich beispielsweise den Wandel hin zu einer „interactive library as a virtual working space“ vorstellen. Digitalisierung und Open Science sind somit Herausforderungen, aber noch viel mehr Chancen für eine nachhaltige Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Bibliotheken.

Wo bekommt man weitere Informationen zu Deiner Masterarbeit?

Meine Masterarbeit steht natürlich auch im Open Access zur Verfügung. Wenn Sie weitere Fragen oder Anmerkungen zu dem Thema haben, freue ich mich, wenn Sie mich kontaktieren!

Thomas Gerdes: Die Open-Science-Bewegung und ihre Bedeutung für die wissenschaftlichen Bibliotheken. Eine Analyse von Positionspapieren und Entwicklungsperspektiven. Berlin 2018 (Berliner Handreichungen zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft, Nr. 428). DOI: 10.18452/18983.

Dr. Thomas Gerdes hat als wissenschaftlicher Bibliothekar im Ibero-Amerikanischen Institut – Stiftung Preußischer Kulturbesitz und in der ZBW gearbeitet. Zurzeit ist er Wissenschaftlicher Bibliothekar an der University of Applied Sciences Europe in Hamburg. Seine Masterarbeit im berufsbegleitenden Studiengang Bibliotheks- und Informationswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin beschäftigt sich mit der Open-Science-Bewegung und ihrer Bedeutung für die wissenschaftlichen Bibliotheken.
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