Wie könnte eine Science 2.0-Strategie für Bibliotheken aussehen?
„Follower-Power“, „Raus aus der Komfortzone“ und „Bibliotheken als ehrliche Makler“ waren zentrale Ergebnisse, die beim Workshop zur Konkurrenz durch Science 2.0-Tools im Rahmen des 104. Bibliothekartages in Nürnberg erarbeitet wurden. Trotz berechtigter Befürchtungen hinsichtlich der Überschneidungen in den Geschäftsmodellen weisen Science 2.0-Tools auch positive Aspekte für Bibliotheken auf, die sie pragmatisch nutzen könnten.
Als Folgeveranstaltung des Science 2.0-Workshops beim 103. Bibliothekartag in Bremen 2014 wurde die damals formulierte Befürchtung beim Workshop der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft am Freitag, den 29.05.2015, in Nürnberg aufgegriffen und lebhaft diskutiert: Die Frage war also, ob Science 2.0-Tools und -Plattformen in Zukunft den wissenschaftlichen Bibliotheken den Rang ablaufen und diese daher ohne vernünftige Science 2.0-Strategie in die Bedeutungslosigkeit abdriften?
Science 2.0 wirft Fragen für Bibliotheken auf
Zur Einführung zeigte Dr. Guido Scherp in seinem Einführungsvortrag auf, wie Science 2.0 wissenschaftliche Bibliotheken betrifft (PDF). Denn wenn Forschende über Soziale Netzwerke recherchieren, in Blogs oder Wikis publizieren, online und mobil forschen, so wirft dies für Bibliotheken die Frage auf, wie die zukünftige Literaturversorgung aussieht. Welche zusätzlichen Inhalte müssen gesammelt werden? Welche Dienste und Angebote brauchen Forschende dafür?
Unendliche Fülle an Tools und Plattformen
Einen Praxis-Überblick über Science 2.0-Tools und -Plattformen mit ihren Funktionen und Nutzungsszenarien bot Prof. Dr. Isabella Peters (PDF). Sie zeigte, dass es angesichts der verschiedenen Typen und der unendlichen Fülle an Tools und Plattformen schwierig ist, eine Kategorisierung vorzunehmen bzw. überhaupt den Überblick zu behalten.
Schließlich gibt es sowohl für Science 2.0 spezialisierte Tools und Plattformen, als auch solche, die sich nicht speziell an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler richten, aber von diesen zu ihren Zwecken eingesetzt werden.
Überschneidungen in den Geschäftsmodellen
Inwiefern Science 2.0-Tools und –Plattformen eine Konkurrenz für Bibliotheken darstellen, analysierte Birgit Fingerle anhand der Geschäftsmodelle (PDF). Der Vergleich einer wissenschaftlichen Bibliothek mit ResearchGate, Figshare und Twitter , die von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beispielsweise eingesetzt werden, um darüber Publikationen auszutauschen, zu denen sie sonst keinen Zugang hätten, zeigte, welche Bereiche für wissenschaftliche Bibliotheken besonders kritisch sind: Bei Kunden (Nutzer), angebotenem Wert, Schlüsselaktivitäten und Schlüsselressourcen sind die Überschneidungen am größten. Aber auch die anderen Bereiche der Geschäftsmodelle sollten im Auge behalten werden. Vermutlich stellen kommerzielle Anbieter für die Zukunft von Bibliotheken die größte Gefahr dar. Sie sprechen nicht nur die gleiche Zielgruppe mit einem ähnlichen Nutzenangebot und größtenteils gleichen Schlüsselaktivitäten, -ressourcen und –partnern an, sondern sind auch besonders finanzstark und reaktionsschnell. Allerdings ist nicht immer schon eine eindeutig kommerzielle Ausrichtung zu erkennen.
Bibliotheken aus der Komfortzone locken
Drei Fragen wurden von den rund 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Gruppen diskutiert, bevor in einer Schlussrunde gemeinsam über mögliche Strategien und Ansatzpunkte gesprochen wurde:
- Welche Vorteile haben Bibliotheksnutzende von Science 2.0-Tools und -Plattformen? Welche Informationen und Dienste sollten Bibliotheken ihnen dazu geben bzw. anbieten können?
- Wie können Bibliotheken Science 2.0-Tools nutzen?
- Laufen Science 2.0-Tools oder -Anwendungen Bibliotheken den Rang ab?
Generell lässt sich feststellen, dass Science 2.0-Tools durchaus Funktionen der Bibliotheken übernehmen und diese dadurch aus ihrer Komfortzone locken. Der Druck, den die Tools erzeugen, wird als Anlass verstanden, überhaupt über eine Neupositionierung der Bibliotheken nachzudenken.
Positive Aspekte der Tools und Plattformen
Positiv wurden die Schnelligkeit in der Informationsvermittlung und die meist kostenfreie Verfügbarkeit der Science 2.0-Tools wahrgenommen. Auch ihre Usability, insbesondere ihre Sortierungs-, Spezialisierungs- und Suchfunktionalitäten, wurden begrüßt, ebenso wie die Möglichkeiten zur Selbstrepräsentation. Dabei funktionieren Science 2.0-Tools weitgehend hierarchiefrei. Es zählen eher Ideen und Kollaboration zwischen den Nutzenden als ihr Status. Nicht zu vergessen, dass die Science 2.0-Tools auch als Marketinginstrument genutzt werden können: Sei es in Bezug auf die eigene Person (der Wissenschaftlerin, des Wissenschaftlers), wissenschaftliche Arbeiten oder auf die Bibliothek.
Follower-Power und der Blick über den Tellerrand
Eng damit verbunden ist die sogenannte „Follower Power“, die durch die typischen Netzwerkeffekte auf den Social Media-Plattformen ermöglicht wird. Dadurch, dass Science 2.0-Tools unterschiedliche Nutzergruppen und Disziplinen miteinander in Beziehung setzen, ermöglichen sie den Blick über den Tellerrand hinaus und fungieren als Trend-Finder und Ideen-Geber.
Die positiven Effekte der Nutzung von Science 2.0-Tools können allerdings nur genutzt werden, wenn eine kritische Masse an (disziplinären) Inhalten und Nutzern erreicht wird. Eine andere Schwäche der Science 2.0-Tools betrifft ihre Langzeitverfügbarkeit. Denn ein Konkurs einer Plattform ist nicht auszuschließen und mit der Akzeptanz der Nutzungsrichtlinien treten Nutzende meistens auch die Rechte an ihren Inhalten an die Plattformbetreiber ab.
Alleinstellungsmerkmale von Bibliotheken
Eines der wichtigsten Alleinstellungsmerkmale von Bibliotheken besteht darin, dass sie nicht kommerziell sind und dabei hochwertige Inhalte liefern. Eine Chance für Bibliotheken könnte daher sein, einen Full-Service anzubieten und hierfür auch ihre Metadatenqualität und die bibliographische Recherche ins Feld zu führen, die nach wie vor als Stärken der Bibliotheken betrachtet werden.
Des Weiteren unterscheiden Bibliotheken sich darin, dass sie eine Brücke zwischen Online- und Offline-Welt herstellen können. Dass sie auch als physische Orte bestehen und den persönlichen Kontakt bieten können, hebt sie positiv ab. Dies könnten sie nutzen, um Personen vor Ort zu vernetzen oder die Leserinnen und Leser einer Publikation.
Starke Player, wertvolle Daten
Die Datenschutzbestimmungen sind in diesem Szenario der limitierende Faktor für Bibliotheken. Und: Im Gegensatz zu vielen Science 2.0-Tools achten sie diese. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hingegen nutzen die neuen Möglichkeiten einfach; rechtliche Einwände, die das Urheberrecht oder den Datenschutz betreffen, sind ihnen egal oder unbekannt. Für Bibliotheken könnte ein stärkeres Nutzer-Empowerment ein Lösungsweg sein: Nutzerinnen und Nutzer könnten per Opt-In bestimmen, welche Daten Bibliotheken speichern sollen, so dass Bibliotheken darauf basierend weiterführende Services anbieten können, etwa Recommender-Dienste.
Das Kräfteverhältnis ist zudem dadurch unausgewogen, dass manche Science 2.0-Plattformen, wie Mendeley mit Elsevier, Verlage als starke Player im Rücken haben. Diese bekommen durch eine Analyse der Nutzungsdaten einen größeren Wissensvorsprung, etwa in Bezug auf Forschungstrends.
Bibliotheken können kaum Schritt halten
Hinsichtlich ihrer Usability haben die Science 2.0-Tools und -Plattformen einen Vorsprung und hinsichtlich des Open Access-Anteils scheinen sie Bibliotheken ebenfalls den Rang abzulaufen. In die Hände spielt ihnen vermutlich auch, dass Altmetrics, wie der ResearchGate-Score, für Berufungen wichtiger werden. Dadurch entsteht für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Zugzwang, auf den Science 2.0-Plattformen aktiv zu sein, was zwangsläufig deren Nutzung ankurbeln dürfte.
Wissenschaftliche Bibliotheken, denen oft kaum bekannt ist, was Forschende derzeit nutzen oder benötigen, können das Tempo der kommerziellen Anbieter nicht mithalten. Andererseits könnte Bibliotheken zugutekommen, dass die Nutzerinnen und Nutzer selbst teilweise von der Entwicklungsgeschwindigkeit überfordert werden. Möglicherweise eine Chance für Bibliotheken, wieder „aufzuholen“ oder „Ordnung ins Chaos“ zu bringen.
Allerdings droht auch aus anderer Richtung Gefahr: Denn weitere kommerzielle Anbieter stellen zunehmend eine Konkurrenz dar, beispielsweise Content-Anbieter wie die Amazon E-Book-Ausleihe.
Ansatzpunkte für eine Science 2.0-Strategie von Bibliotheken
Bibliotheken sollten mit Trends mitgehen und sich weiterentwickeln. Dabei sollten sie nicht ResearchGate & Co. hinterherlaufen, sondern die Bibliothek als „ehrlichen Makler“ positionieren. In klassischen Schulungen könnten sie einen Überblick über die am Markt befindlichen Tools geben, über deren Verwendungsweise informieren und dabei auch auf Probleme und Risiken hinweisen. Um das Interesse der Nutzerinnen und Nutzer zu wecken, kann es hilfreich sein, Schulungen andersherum aufzuziehen als dies oft üblich ist: Es wird bei der Vorstellung eines Science 2.0-Tools angefangen und dann werden eigene Services gezeigt und erläutert, welche Mehrwerte diese zusätzlich anbieten.
In diese Richtung weist auch ein ähnlicher Auftrag für Bibliotheken: Sie müssen sich überlegen, wo sie Mehrwerte zu Science 2.0-Tools schaffen können. Selbst die Plattformen zu nutzen, sich dort mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu vernetzen ist hierfür ein sinnvoller erster Schritt, und trägt neben der allgemeinen Marktkenntnis auch zu einem tieferen Verständnis der Nutzerinnen und Nutzer bei. So kann zudem erreicht werden, dass sie von den Forschenden überhaupt als Ansprechpartner für diese Tools wahrgenommen werden.
Vernetzung und Austausch fördern
Bibliotheken müssen sich Gedanken machen, wie sie möglichst schnell und einfach liefern können. Lobbyarbeit für ein wissenschaftsfreundliches Urheberrecht und für Open Access gehört dazu. Ebenso sollten sie ihre Angebote dahingehend überprüfen, wie sie damit Vernetzung und Austausch noch mehr fördern und die Community binden könnten. Um dies alles gut bewerkstelligen zu können, ist ein Mehr an Nutzerforschung gefragt. Durch die Bildung von Interessensgruppen könnten Bibliotheken diese Herausforderungen auf mehrere Schultern verteilen.
In diesen Zusammenhang passt auch die im Workshop aufgeworfene Frage: Wann schließen sich die ersten großen Bibliotheken mit Science 2.0-Tools wie ResearchGate zusammen, so wie es damals bei dem Digitalisierungsprojekt von Google der Fall war?
In der Vernetzung von Bibliotheken untereinander könnte ein weiterer Nutzen von Science 2.0-Tools liegen. Dauerhaft und über punktuelle Veranstaltungen hinaus, könnte so beim Thema Science 2.0 die Zusammenarbeit der Bibliotheken gestärkt werden.
Pad zum Workshop von @bibliothekarin: Link
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