Das Cluetrain Manifest revisited: Schnee von gestern oder Leitfaden für die Kommunikation 2.0?

Vor 15 Jahren erschien mit dem Cluetrain Manifest ein „Klassiker“ zur Online-Kommunikation von Unternehmen. Sind diese 95 Thesen aus der Zeit vor dem Web 2.0 heute noch aktuell und können Sie die Kommunikation von Bibliotheken bereichern?

1999 veröffentlichten die US-Amerikaner Rick Levine, Christopher Locke, Doc Searls und David Weinberger das Cluetrain Manifest; 95 Thesen zur Beziehung zwischen Unternehmen und ihren Kundinnen und Kunden in Zeiten des Internets, die für Wirbel sorgten, da sie der Marketing-Praxis in vielen Unternehmen widersprachen. Die Thesen wurden von zahlreichen Personen unterzeichnet. Im Jahr 2000 veröffentlichten die Autoren ein Buch gleichen Titels, das zum Bestseller avancierte. In dem Manifest beschreiben die Autoren, warum es aus ihrer Sicht notwendig ist, die von vielen Unternehmen praktizierte einseitige Massenkommunikation zugunsten wechselseitiger Beziehungen mit ihren Kundinnen und Kunden zu beenden. Da auch heute viele Organisationen noch nicht ganz in der Welt digitaler Kommunikation angekommen zu sein scheinen und noch keinen dafür passenden Kommunikationsstil gefunden haben, erscheinen die Thesen aus dem Cluetrain Manifest 15 Jahre später immer noch aktuell.

Ausgangspunkt für die Reflektion der eigenen Kommunikation

Das Cluetrain Manifest beschreibt die Chancen und Risiken der vernetzten Welt, in der sich Bibliotheken heutzutage bewegen. Um ihre Chancen nutzen zu können, müssen Organisationen begreifen, wie tiefgreifend sich der Charakter der Kommunikation wandelt, und dies in ihrer Kultur aufgreifen. Für Organisationen, die dies nicht begreifen, sich weiterhin abschotten und von oben herab kommunizieren, gibt es große Risiken – von im Stillen unzufriedenen Kundinnen und Kunden bis hin zu Shitstorms. Insofern können die Inhalte des Cluetrain Manifest, die nicht ausschließlich für Unternehmen von Interesse sind, sondern für alle Organisationen, die mit Kundinnen und Kunden umgehen, einen Ausgangspunkt für eine Reflektion der eigenen Kommunikation bilden.

Kernbotschaften und Kernfragen für Bibliotheken

Augenhöhe

1. Von einseitiger Massenkommunikation zu Gesprächen auf Augenhöhe

Der zentrale Satz aus dem Cluetrain Manifest ist wohl die 1. These: „Märkte sind Gespräche“. Diese zentrale Botschaft des Cluetrain Manifests zu berücksichtigen bedeutet, Gespräche auf Augenhöhe zu führen – und nicht einseitig Kundinnen und Kunden mit Werbebotschaften zu berieseln.

25. These: „Die Unternehmen müssen heruntersteigen von ihren Elfenbeintürmen und mit den Menschen reden, mit denen sie Beziehungen aufbauen wollen“.

Um diese Gespräche zu ermöglichen, sollten sich Bibliotheken öffnen, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter „raus“ lassen, in den persönlichen Kontakt mit Kundinnen und Kunden – online wie offline.

84. These: „Wir kennen ein paar Leute aus eurem Laden. Die sind ziemlich in Ordnung, wenn wir sie im Internet treffen. Versteckt ihr davon noch mehr? Könnten sie nicht rauskommen und mit uns spielen?“

Dank Web 2.0 ist es heutzutage viel einfacher, dieses Gespräch zu suchen. Wichtig ist es dabei, sich nicht hinter einer institutionellen Fassade zu verstecken, sondern auch persönlich, als individuelle Persönlichkeit, den Kontakt zu suchen. Davon profitiert wiederum das Marketing der Organisation:

86. These: „Wenn wir nicht gerade eure “Zielgruppe” sind, sind viele von uns eure Mitarbeiter. Wir würden lieber mit Freunden im Netz reden, als auf die Stechuhr zu schauen. Das würde euren Namen schneller bekannt machen als jede noch so schicke WebSite. Aber ihr sagt uns, daß das Gespräch mit dem Markt die Sache des Marketings ist.“

Ob eine Organisation ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern diese Freiheit einräumt, ist eine Frage der Haltung: Gibt es genügend Vertrauen in die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?

Die Kernfrage lautet: Wie können Bibliotheken ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die notwendige Autonomie für diese Gespräche gewähren und gleichzeitig Chaos und Risiken minimieren?

LippenAuthentisch

2. Authentisch kommunizieren

Die „neuen“ Kommunikationsmöglichkeiten wandeln auch die Erwartungen der Kundinnen und Kunden.

17. These: „Wer annimmt, die Online-Märkte seien dieselben Märkte, die einst die TV-Spots im Fernsehen erduldet haben, macht sich etwas vor.“

Eine Beschallung mit „aseptischer“ Firmensprech-Kommunikation berührt Kundinnen und Kunden nicht. Es sollten echte Menschen mit natürlicher Stimme sprechen. Vielleicht stellen gerade aus diesem Grunde nicht wenige Organisationen bei Pinterest oder Instagram Menschen aus ihrer Organisation in den Vordergrund?

15. These: „Bereits in wenigen Jahren wird die heute homogenisierte “Stimme” des Geschäftslebens — der Klang von Mission-Statements und Unternehmensbroschüren — so künstlich und aufgesetzt klingen, wie die Sprache am französischen Hof im 18. Jahrhundert.“

Es gilt aufzupassen, dass Kundinnen und Kunden nicht weglaufen, weil sie sich von Organisationen nicht ernst genommen fühlen, die anonym und gekünstelt ihre Botschaften herausposaunen.

89. These: „Wir haben echte Macht — und das wissen wir auch. Wenn ihr das Licht am Ende des Tunnels nicht erkennen könnt, dann wird sich schon jemand anderes finden, der besser zuhört, interessanter ist und mit dem es mehr Spaß macht, zu spielen.“

Die Kernfrage lautet: Wie können Bibliotheken authentisch kommunizieren?

HaarduttWissen

3. Kundinnen und Kunden wissen ohnehin „alles“

Das Web 2.0 fördert Transparenz. Kommunikation, die bemüht ist, Dinge zu verdunkeln, kann auch deshalb nicht erfolgreich sein, weil sich Informationen heutzutage viel schneller und weiter verbreiten lassen.

12. These: „Es gibt keine Geheimnisse mehr. Die vernetzten Märkte wissen über die Produkte der Unternehmen mehr, als die Unternehmen selbst. Ob die Nachricht gut oder schlecht ist, sie wird weitergegeben.“

Dies geschieht mitunter rasend schnell, mit fatalen Folgen. Es ließe sich oft durch einen einfacheren direkten Kontakt in die Organisation hinein verhindern.

85. These „Wenn wir Fragen haben, wenden wir uns an andere Menschen im Internet. Hättet ihr “eure Leute” nicht so gut im Griff, dann wären sie vielleicht unter den Menschen, an die wir uns wenden würden.“

Dabei sind Kundinnen und Kunden oft bereit, ihr Wissen und ihre Wünsche zu teilen, auch zum Wohle der Organisation. Open Innovation stellt eine Option zur Kundeneinbindung dar. Eigene Communities und auch Offline-Kommunikation können weitere Plattformen dafür darstellen.

76. These: „Wir haben einige Ideen, die euch interessieren sollten: neue Werkzeuge, die wir brauchen, bessere Dienstleistungen. Sachen, für die wir gerne bezahlen würden. Habt ihr mal ‘ne Minute?“

Wenn Bibliotheken oder andere Organisationen von diesem Wissen nicht profitieren möchten, so ist dies ihr Problem. Der Markt steht nicht still. Kundinnen und Kunden warten nicht ewig.

88. These: „Wir haben Besseres zu tun, als uns darüber Sorgen zu machen, ob ihr euren Wandel noch rechtzeitig in den Griff bekommt, um mit uns ins Geschäft zu kommen. Das Geschäft ist nur ein Teil unseres Lebens. Euch scheint es voll und ganz zu vereinnahmen. Denkt mal darüber nach: Wer braucht hier eigentlich wen?“

Die Kernfrage lautet: Wie können Bibliotheken es erreichen, dass sich (potentielle) Kundinnen und Kunden mit ihren Wünschen an sie wenden? Was steht dem im Wege?

HÄndeVernetzung

4. Weniger Hierarchie, mehr Vernetzung – Entwicklung zur Organisation 2.0

Neue Kommunikations- und Vernetzungsmöglichkeiten ermöglichen die Entstehung neuen Wissens. Dies gilt auf Märkten ebenso wie innerhalb von Organisationen. Dabei kann der direkte Austausch sehr wertvoll sein.

9. These: „Diese vernetzten Gespräche ermöglichen es, daß sich machtvolle neue Formen sozialer Organisation und des Austauschs von Wissen entfalten.“

Der Versuch, diese Kommunikation zu unterbinden, dürfte in den wenigsten Fällen erfolgreich sein; sinnvoll ist er jedenfalls nicht. Besser ist es, die eigenen Angestellten in ihrer Autonomie zu stärken, und ihnen wirksame Tools und Unterstützungsmöglichkeiten für den Austausch und die Zusammenarbeit anzubieten.

18. These: „Unternehmen, die nicht realisieren, daß ihre Märkte jetzt von Mensch zu Mensch vernetzt sind, deshalb immer intelligenter werden und sich in einem permanenten Gespräch befinden, verpassen ihre wichtigste Chance.“

Die neuen Kommunikationsmöglichkeiten bleiben nicht ohne Auswirkungen auf die Hierarchien in Organisationen.

42. These: „Ebenso wie auf den vernetzten Märkten, sprechen die Mitarbeiter auch innerhalb des Unternehmens unmittelbar miteinander — und nicht bloß über Regelungen, Management-Direktiven und Geschäftsergebnisse.“

„Intelligenten“ Organisationen ist bewusst, dass die Freiheit zum eigenständigen Arbeiten einen Erfolgsfaktor darstellt. Aus diesem Grunde reduzieren sie den Einfluss der Hierarchie und ermöglichen so allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, ihr Potential einzubringen. Die Verringerung von Hierarchien, Abteilungssilodenken und die Ermöglichung von Autonomie stellt den zentralen Schritt zur intern gelebten „Organisation 2.0“ dar. Vertrauen und Unterstützung, statt Grenzen und Verbote lauten die Stichworte. Eine Bibliothek, die passend im Web 2.0 kommunizieren möchte, muss selbst Web 2.0-iger werden.

58. These: „Wenn die Bereitschaft aus dem Wege zu gehen ein Indikator für den IQ ist, dann haben bisher nur wenige Unternehmen an Verstand gewonnen.“

Die Kernfrage lautet: Wie können Bibliotheken zu Organisationen 2.0 werden?

Fazit: Es lohnt sich, das Cluetrain Manifest zu lesen. Der Klassiker ist auch 15 Jahre nach seiner Veröffentlichung immer noch hochaktuell. Er adressiert nicht nur Themen in Zusammenhang mit externer Kommunikation, sondern auch Themen, die durch die neuen Entwicklungen in Organisationen entstehen. Es lohnt sich, die 95 Thesen von Zeit zu Zeit wieder hervorzuholen, einen Blick hineinzuwerfen, mit der eigenen institutionellen Kommunikationspolitik abzugleichen und sich inspirieren zu lassen.

icon_linkLiteraturtipp:

  • Cluetrain Manifest
  • Rick Levine, Christopher Locke, Doc Searls, David Weinberger: Das Cluetrain Manifest. 95 Thesen für die neue Unternehmenskultur im digitalen Zeitalter. Econ Verlag, München, 2000

Autorin: Birgit Fingerle (ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft; Soziale Medien, Stabsstelle Innovationsmanagement)

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Birgit Fingerle ist Diplom-Ökonomin und beschäftigt sich in der ZBW unter anderem mit Innovationsmanagement, Open Innovation, Open Science und aktuell insbesondere mit dem "Open Economics Guide". (Porträt: Copyright

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